Göttin der Wüste
hinter ihm, dort, wo er herkommt, herrschen Chaos und Vernichtung. Dort wölbt sich der Horizont empor und schreit auf vor Schmerz, als die Welt aus den Fugen bricht, aufgewühlt vom Sturm aller Stürme.
Ein Trichter aus tobendem Sand tanzt in der Ferne, so hoch wie die Himmel selbst. Tanzt so weit entfernt, daß ein Kamel Tage brauchen würde, um dorthin zu gelangen. Aber der Sturm ist schnell. Binnen einiger Atemzüge rast er heran, wenn es sein soll. Verheert die Wüste und den Rest der Welt und zieht eine Spur, so breit, daß selbst die Sterne sie sehen können, wenn sie herabschauen.
Der Mann geht dem Sturm voran, zieht ihn an unsichtbaren Ketten wie ein Löwenbändiger sein Raubtier.
Aber führt wirklich der Mann den Sturm, oder jagt der Sturm den Mann? Und vermag der eine den anderen tatsächlich zu bändigen?
Die Wüste brüllt auf vor Zorn und Erniedrigung, und Staub regnet vom Himmel herab.
Hier draußen sind sogar die Tränen aus Sand.
ZWEITER TEIL
HENOCH
KAPITEL 1
Am ersten Weihnachtstag stieg das Quecksilberthermometer am Fenster des Morgenzimmers auf dreiunddreißig Grad Celsius. Madeleine erklärte, möglicherweise würde es noch heißer werden, da der Hochsommer im Süden Afrikas für gewöhnlich auf Anfang Januar falle. Sie habe schon Temperaturen von über fünfundvierzig Grad erlebt, und das nicht etwa in der Wüste, sondern hier, im gemäßigten Zentrum des Landes.
Cendrine empfand die Hitze bereits jetzt als unerträglich. Ende November war sie gemeinsam mit Madeleine nach Windhuk gefahren und hatte festgestellt, daß es noch ein weiteres Geschäft für Damenmoden dort gab, sehr viel einladender als der düstere Laden am Bahnhof. Madeleine hatte es sich nicht nehmen lassen, Cendrine drei neue Kleider zu kaufen, alle langärmelig und bodenlang. Sie waren hübsch, gewiß, aber bei diesen Temperaturen schwitzte sie erbärmlich darunter und befürchtete, unangenehm zu riechen.
Das Weihnachtsfest bei solch einer Sommerhitze zu feiern erforderte Überwindung. Ein Tannenbaum, von Gott weiß woher herbeigeschafft, wurde in der inneren Eingangshalle aufgestellt. Valerian erhielt einige Tage Heimaturlaub. Seit der Verlegung seiner Kompanie vor drei Monaten war dies sein erster Besuch zu Hause, und er erzählte in einem fort von den katastrophalen Zuständen im Fort, von Sandstürmen und Skorpionplagen, von Wassermangel, verdorbenen Lebensmitteln und Fieberepidemien. Titus geriet außer sich und kündigte lauthals an, den Gouverneur persönlich um eine Versetzung seines Sohnes zu bitten, doch Valerian blieb standhaft: Er wollte auch weiterhin in der Wüste bleiben. Immerhin, so sagte er ein wenig resigniert, scheine es in der Omaheke nicht zu Kampfeinsätzen zu kommen. In all den Wochen hätten sie keinen einzigen Eingeborenen zu sehen bekommen; offenbar sei es dort selbst für die Wüstennomaden zu öde und trocken.
Cendrine fand, daß Valerian schlecht aussah. Sein blondes Haar war noch heller geworden, fast weiß. Seine Haut war stark gebräunt, wirkte aber spröde wie gegerbtes Leder. Kleine Falten, die bei seiner Abreise noch nicht dagewesen waren, lagen um seine Augenwinkel, und er war leiser geworden, fast besonnen, als hätten ihm die Schrecken der Wüste einen tiefverwurzelten Respekt eingeflößt. Er war kein neuer Mensch geworden – seine Tiraden gegen die Herero waren nach wie vor voller Haß, und auch seine Seitenhiebe gegen Adrian blieben nicht aus –, und doch gab es keinen Zweifel, daß in ihm eine Wandlung eingesetzt hatte, als habe die Einöde seinen jugendlichen Übermut vertrocknen lassen wie eine Wüstenpflanze.
Die Tanne in der Eingangshalle hielt sich bei der heiß-trockenen Witterung nur wenige Tage. Noch vor dem Neujahrsfest waren die meisten Nadeln abgefallen und verhakten sich widerspenstig in den flauschigen Teppichen. Die Gärtner schafften den Baum auf die Wiese hinter dem Ostflügel, um ihn zu verbrennen, an der gleichen Stelle, an der vor drei Monaten schon ein anderes Feuer gewütet hatte.
Die Mädchen bettelten, dem Ende der Tanne beiwohnen zu dürfen, und Cendrine gab schließlich nach und ging mit ihnen hinaus. Als das dürre Geäst Feuer fing und unter Prasseln und Knistern zu Asche zerfiel, gesellte sich Adrian zu ihnen. Gedankenverloren blickte er in die Flammen.
»Traurig, nicht wahr?« sagte Cendrine leise, ehe ihr klar wurde, daß er sie nicht verstehen konnte, ohne sie anzusehen.
Er mußte trotzdem gespürt haben, daß sie ihn angesprochen hatte,
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