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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gestiegen und hätte sich die Gegenstände am Fuß des Insektenpalastes aus der Nähe angesehen. Sie spürte, wie etwas nach ihr rief, eine stumme Aufforderung, heranzukommen, sich zu verbeugen, wie es die San getan hatten, und den Termitenbau anzubeten. Sie mußte all ihren Willen aufbringen, um das Fenster wieder zu schließen und einen Schritt zurückzutreten.
    Doch ihr Widerstand war nur von kurzer Dauer. Ihr Blick blieb fest auf den Hügel gerichtet. Abermals schien sich seine Form zu verändern. Seine Oberfläche geriet in Unruhe, während das Jammern des Windes mehr und mehr einer stürmischen Melodie glich, die Cendrine einlullte und ihren Geist für Dinge öffnete, denen er sich unter normalen Umständen verschlossen hätte.
    Sie mußte dort hinaus, mußte sehen, was mit dem Hügel vor sich ging!
    Aber ein Rest von Vernunft sagte ihr, daß sie um jeden Preis im Haus bleiben sollte, ganz gleich, was passierte.
    Während sie noch mit sich haderte, geschah mit einemmal etwas Verblüffendes. Sie sah den Termitenbau, der etwa fünfzig Meter entfernt war, plötzlich dicht vor sich, als stünde sie direkt davor. Sie konnte die Opfergaben der Eingeborenen sehen, so nah, als müßte sie nur die Hand ausstrecken, um sie zu berühren. Nun konnte sie auch die Oberfläche des Hügels genau betrachten, der mehr als zweimal so hoch wie sie selbst war. Und sie erkannte, daß nicht der Bau selbst sich bewegte.
    Es waren Termiten, Tausende und Abertausende, und es wurden immer noch mehr. Sie quollen durch winzige Öffnungen aus dem Hügel wie Wasser aus einem zusammengepreßten Schwamm. Sie ergossen sich in einer Flut über die Hänge des Hügels, übereinander und untereinander, wimmelnd und knisternd, ein Meer aus Chitinpanzern und krabbelnden Beinen, Fühlern, Insektenaugen. Sie besetzten die Äste wie Aussichtstürme, bedeckten jeden Zentimeter Rinde, erklommen sogar die scharfen Spitzen der Dornenzweige. Die lehmige Oberfläche des Hügels war längst unter dieser Eruption aus Insektenleibern verschwunden, und immer noch strömten weitere Tiere aus den Löchern. Schicht um Schicht schob sich über den Hügel, schimmernd und glitzernd im Mondlicht.
    Cendrine konnte nur dastehen und zusehen. Die Termitenströme bildeten geheimnisvolle Muster, eine Schrift aus zerfließenden und sich neu anordnenden Zeichen. Waren das nicht Symbole und Hieroglyphen, ähnlich den uralten Höhlenmalereien der San, die Cendrine in Büchern gesehen hatte? Wollten sie ihr etwas mitteilen?
    Je länger sie darauf starrte, desto deutlicher wurden die bizarren Anordnungen des Termitenzugs. Da waren Kreise und Spiralen, an denen entlang ihr Blick in eine wundersame Tiefe glitt, hinabgesaugt, immer weiter fort von der Wirklichkeit. Bald umgaben sie die Muster von allen Seiten, umschlossen sie als Ozean aus Ornamenten, zogen sie immer noch tiefer, tiefer, tiefer in den Abgrund.
    Und dann verblaßten die Muster, und um sie war Dunkelheit. Sie mußte nicht einmal warten, bis ihre Augen sich an das fehlende Licht gewöhnt hatten; sie wußte auch so, wo sie sich befand. Sie war wieder im Inneren des Termitenhügels, in einem seiner zahllosen Tunnel, und wieder ertönte in der Ferne das Klicken und Klappern von Schritten, das Schleifen von Horn auf Horn, das Knistern und Schaben vielgliedriger Beine und Leiber.
    Wie schon beim erstenmal warf Cendrine sich herum und rannte los, diesmal keine Steigung hinauf, sondern einen leicht abschüssigen Stollen hinunter. Der Boden war feucht und rutschig, immer wieder mußte sie um ihr Gleichgewicht kämpfen. Lauter und lauter hörte sie die Schritte hinter sich, hörte undefinierbares Kreischen, das von allen Seiten zugleich zu kommen schien, nicht nur von hinten.
    Die Bedrohung schien sich hinter ihr zusammenzuballen wie die Sturmwolken am Himmel über Windhuk. Panisch rannte Cendrine weiter, schlitterte, glitt aus, rappelte sich wieder hoch. Es gab keine Abzweigungen oder Kreuzungen, nur den schwarzen, nassen Tunnel, aus dem ihr ein eisiger Luftzug entgegenfegte.
    Da entdeckte sie in der Wand eine Tür. Eine hohe, schmale Eichentür, mit geschliffenen Intarsien und einer geschwungenen Klinke aus Messing.
    Sie stellte sich nicht die Frage, was solch eine Tür in einem Termitenbau zu suchen hatte. Rasch drückte sie die Klinke hinab, in der angstvollen Erwartung, der Durchgang sei verschlossen. Doch zu ihrer grenzenlosen Erleichterung schwang die Tür nach außen. Cendrine huschte hindurch, warf den Flügel hinter

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