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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Gedanken spielen konnte, sich daran zu versuchen.
    Nichts Geringeres vermutete Selkirk im Sand der Kalahari als die Ruinen Henochs, der ersten Stadt der Menschheit – jener Stadt, die Kain einst nach dem Mord an seinem Bruder Abel gründete.
    Aber warum sollte eine Stadt, über die man keinerlei Anhaltspunkte besaß, mit Ausnahme einer beiläufigen Erwähnung im ersten Buch Mose, ausgerechnet hier, im Süden Afrikas, zu suchen sein und nicht viel weiter nördlich, in den Ebenen Mesopotamiens oder den Felsklüften Palästinas?
    Selkirk blieb die Erklärung dafür schuldig, und seine Quellen wurden spätestens in jenem Augenblick unwichtig, da er die ersten Ruinen im glühenden Wüstensand entdeckte.
    Die Art und Weise, in der Selkirk die folgenden Jahre schilderte, beschworen in Cendrines Kopf Bilder aus dem alten Ägypten herauf, von Sklavenkolonnen, die unter der unbarmherzigen Wüstensonne um ihr Leben schufteten, von geschundenen Männern, die gleich reihenweise an Hitze, Durst und Auszehrung starben.
    Schon in den ersten Wochen der Grabungen verlor Selkirk zwei seiner drei Assistenten, und bald darauf begann auch unter den Arbeitern ein Massensterben. Sandstürme von bislang ungekannten Ausmaßen tobten über sie hinweg und vernichteten die Arbeit mehrerer Monate. Skorpione und anderes Giftgetier suchten die Männer im Schlaf heim und töteten so gezielt, als habe ihnen jemand den Befehl dazu erteilt. Die Hitze war bei Tage kaum mehr zu ertragen, und die Nächte quälten die Arbeiter mit Temperaturen um den Gefrierpunkt. Alles ließ darauf schließen, daß Selkirks Vorhaben zum Scheitern verurteilt war. Er aber weigerte sich, aufzugeben, und gleich mehrmals sandte er seine Vorarbeiter nach Westen, um neue Kolonnen zu rekrutieren. Ganze Stämme brachen auseinander, als die eingeborenen Männer Selkirks Versprechen von Alkohol im Überfluß nicht widerstehen konnten und ihre Frauen und Kinder schutzlos zurückließen.
    Immer länger zogen sich die Grabungen hin, bis endlich, im sechsten Jahr der Arbeiten, so viele Ruinen freigelegt waren, daß auch der schlimmste Sandsturm sie in absehbarer Zeit nicht verschwinden lassen konnte. Selkirk frohlockte und ließ künstliche Dünen über den Massengräbern anlegen. Zu jenem Zeitpunkt mußte sein Verstand schon gelitten haben, obgleich seine Handschrift unverändert blieb und auch seine Wortwahl überlegt und präzise erschien. Denn statt seinen Geldgebern Nachrichten über seine Erfolge zukommen zu lassen, verschwieg er die Wahrheit und erklärte das Unternehmen für gescheitert. Der einzige Brite, der von dem Fund wußte, war der überlebende Assistent, und der starb schon bald darauf, als sich in einer der Ruinen auf unerklärliche Weise ein Felsquader löste und ihn erschlug. Nicht einmal in seinen persönlichen Aufzeichnungen gestand Selkirk seine Schuld an diesem Vorfall ein, und doch war Cendrine überzeugt, daß ohne Zweifel der Lord hinter dem Anschlag steckte. Erst nach dem Tod des Assistenten war Selkirks Geheimnis sicher, denn gewiß würde niemand dem Gefasel der Eingeborenen Glauben schenken, zumal eine weitflächige Kolonisierung des Landes zu jener Zeit noch nicht abzusehen war. Ebenso hätten die Grabungen auf der dunklen Seite des Mondes stattfinden können, so sicher fühlte sich Selkirk in Südwest.
    Nach diesem Erfolg gab er den Auftrag, das Anwesen in den Auasbergen zu errichten. Er lud einige der besten englischen Architekten nach Südwest ein, freilich ohne auch nur mit einem Wort seinen Fund in der Kalahari zu erwähnen. Nachdem die ersten Flügel des Gebäudes bewohnbar waren, ließ er seine junge Frau nachkommen und zeugte mit ihr jene drei Töchter, die Jahre später auf so grausame Weise ums Leben kommen sollten.
    Auch nach der Entdeckung Henochs setzte Selkirk seine Arbeiten in Südwest fort, reiste oft allein mit einigen vertrauenswürdigen Eingeborenen in die Kalahari und begann schließlich – vielleicht nur aus der Not heraus, seine Anwesenheit im Land rechtfertigen zu müssen – mit archäologischen Grabungen an der Skelettküste im Nordwesten des Landes. Jene Arbeiter, die Henoch überlebt hatten, waren längst wieder als Nomaden irgendwo in den Savannen und Wüsten Südwests unterwegs, so daß Selkirk getrost neue britische Assistenten einstellen und mit den Arbeiten an der Küste betrauen konnte, ohne fürchten zu müssen, jemand könnte ihnen sein Geheimnis verraten.
    Die Aufzeichnungen endeten abrupt mit der Geburt der jüngsten

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