Göttin der Wüste
Blut. Cendrine hatte mehr als genug gesehen.
Sie lehnte sich im Sessel zurück und schloß die Augen. Die Schwärze, die sie umschloß, war von solcher Vollkommenheit, als wäre sie in ein Faß mit Tinte getaucht. Eine eiskalte Woge schien ihren Körper zu packen, vielleicht ein Luftzug aus dem Kamin, vielleicht auch etwas anderes. Ein Ruck ging durch ihren Leib, sie bäumte sich auf. Erst glaubte sie, jemand hätte ein Licht entzündet, dann aber erkannte sie, daß sie die Helligkeit, die sie schlagartig umgab, nicht mit ihren Augen erfaßte. Es war ein vages Gefühl, ein Glimmen in den Tiefen eines Abgrunds, der mit jedem Meter, den sie fiel, ein Stück tiefer wurde. Die Kälte, das Gefühl zu fallen, die Hilflosigkeit – all das schlug über ihr zusammen, durchdrang sie, schüttelte sie. Von einer Sekunde zur anderen brach sie in Panik aus, riß die Augen auf.
Sie war in ihrem Zimmer, saß im Sessel. Alles war wie zuvor. Das weiße Bettzeug war unberührt, kein kleines Mädchen lag darauf. Vor den Fenstern herrschte die Ruhe der Nacht, kein Wirbelsturm tobte ums Haus. Cendrine atmete erleichtert auf.
Aus dem Dunkel des Erkers blickten ihr leere Augen entgegen. Puppen mit weißen Porzellangesichtern. Aber die hatte sie doch fortgeräumt, als sie hier eingezogen war!
Dann bemerkte sie auch die übrigen Details, die nicht mit ihrem Bild des Zimmers übereinstimmten: ein Stofftier, am Boden neben dem Bett; ein Kranz aus Trockenblumen, der an einer Ecke des Spiegels hing; ein Paar winziger weißer Schuhe, halb unter die Kommode geschoben; und überall in den Schatten die geisterhaften Puppengesichter, starr, mit aufgemalten Harlekintränen.
Ein Knirschen ertönte, dann wurde die Tür geöffnet. Ein Mann betrat den Raum, in einer Hand einen Kerzenleuchter, in der anderen ein rechteckiges Paket, eine Lederkladde oder ein großes Buch. Sorgfältig schloß er die Tür hinter sich und ging an Cendrine vorbei, ohne ihr Beachtung zu schenken. In der Mitte des Raumes ließ er sich auf die Knie nieder, stellte den Leuchter auf dem Dielenboden ab und legte den Lederband beiseite. Dann packte er mit beiden Händen den Läufer und rollte ihn zu einem dicken Teppichwulst zusammen. Darunter kam etwas zum Vorschein, eine steinerne Platte, ein halber Meter im Quadrat, von rötlicher Farbe und mit kantigen Mustern bedeckt: eines der archaischen Elemente, die überall in die Wände und Decken des Hauses eingelassen waren. Cendrine hatte nie bemerkt, daß es auch im Boden ihres Zimmers eines gab.
Selkirk war kein junger Mann mehr. Mitte Fünfzig, schätzte Cendrine. Die kleine Kimberly war ein unverhoffter Nachzügler gewesen. Möglich, daß Selkirk sie deshalb so abgöttisch geliebt hatte. Adrian hatte ihr erzählt, wie sehr der Lord an der Kleinen gehangen hatte; von ihm wußte sie auch, daß keine andere Leiche derart übel zugerichtet worden war wie die des Mädchens.
Nachdem der Lord die Felsplatte freigelegt hatte, griff er mit beiden Händen in eine schmale Vertiefung, die augenscheinlich nur zu diesem Zweck in das Gestein eingearbeitet worden war. Mühsam gelang es ihm, die Platte ein kleines Stück anzuheben und einen Spaltbreit zur Seite zu schieben. Eine pechschwarze Nische tat sich darunter auf.
Selkirk ergriff das lederne Buch, blätterte noch einmal nachdenklich darin, ohne etwas zu lesen, dann schob er es durch den Spalt in die Öffnung. Geschwind zerrte er die Platte wieder an ihren Platz und rollte den Teppich darüber. Penibel pflückte er eine Staubflocke aus den farbigen Borsten und zerrieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann nahm er den Kerzenleuchter auf und verließ das Zimmer.
Cendrine spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. Erst war sie nur in ihrem Magen, so als müsse sie sich übergeben, dann erfüllte das Gefühl ihren ganzen Körper. Sie riß den Mund auf, um zu schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen. In ihrem Kopf erblühte ein Strudel aus Schwärze, saugte sie hinab in einen Wirbel aus Kälte und Lauten, die wie das Heulen wilder Tiere klangen. Fort aus der Vergangenheit, zurück in die Gegenwart.
Kühles Leder in ihrem Rücken. Der Geruch von kalter Asche. Regentreiben vor dem Fenster.
Cendrines Augen standen offen, getrübt, wie von Eiskristallen überzogen. Instinktiv blinzelte sie, schlug die Lider auf und zu, bis sie endlich begriff, daß dies wieder die Wirklichkeit war. Ihre Wirklichkeit.
Taumelnd stand sie auf. Sank gleich darauf wieder in die Knie, stolperte auf allen
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