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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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tat, blieb auch sie so gelassen und kühl wie möglich.
    Schließlich fuhr die Kutsche los. Cendrine reckte den Oberkörper aus dem Fenster und winkte den vier Kaskadens zu, die in einer Reihe vor dem Portal auf dem Kieshof standen. Erst als sie sich ins Innere des Wagens zurückzog, kamen auch ihr die Tränen. In diesem Moment war sie dankbar für die Vorhänge vor den Fenstern; sie wollte nicht, daß ihre Bewacher, die auf Pferden rechts und links der Kutsche ritten, sahen, daß sie weinte. Sie hatte sich fest vorgenommen, während der Reise keine Schwäche zu zeigen und keinerlei Rücksichtnahme zu verlangen.
    Von Osten her wehte ein scharfer Wind, warm und trocken, und der Himmel war wolkenlos. Die Regenfälle des afrikanischen Winterbeginns hatten vor knapp zwei Wochen nachgelassen, und an vielen Stellen waren Blüten zwischen den Savannengräsern aufgebrochen. Kurz vor ihrer Abfahrt hatte sie auf das Quecksilberthermometer vor der Küche geblickt – es hatte vierundzwanzig Grad angezeigt. Für ein Land wie dieses bedeutete das bestes Reisewetter.
    Die Kutsche und ihre Eskorte hatten kaum die ersten Kilometer Richtung Windhuk zurückgelegt, als hinter ihnen ein Ruf ertönte. Sie erkannte die Stimme sofort.
    Der Kutscher ließ die Pferde haltmachen, und Cendrine schlug erstaunt den Fenstervorhang beiseite.
    Adrian lächelte sie an. Er saß auf dem schnellsten Pferd, das in den Ställen der Kaskadens zu finden war, einem dunkelbraunen Wallach mit klugen Augen. Cendrine wollte aussteigen, doch Adrian schüttelte den Kopf, sprang geschickt aus dem Sattel und schob sich zu ihr in die Kutsche. Cendrine hörte draußen die San miteinander tuscheln und lachen, doch im Augenblick war ihr das gleichgültig. Tapfer kämpfte sie dagegen an, rot zu werden, obwohl ihr klar war, daß sie damit wahrscheinlich alles nur noch schlimmer machte.
    Adrian setzte sich auf die Bank ihr gegenüber, beugte sich vor und ergriff ihre Hand. Er sagte nichts, so als hätte er plötzlich auch noch die Stimme verloren, drückte nur ganz leicht ihre Finger und sah ihr in die Augen.
    »Ich fürchte«, murmelte er schließlich, »ich bin etwas ungeschickt.«
    »Worin?« brachte sie mühsam und mit einem Lächeln hervor. Ihre Stimme klang belegt.
    »Ich … darin«, sagte er leise und küßte sie auf die Lippen.
    Es war ein schüchterner Kuß, und Cendrine war hin und her gerissen, zwischen dem Drang, ihn zu erwidern, und ihrer Scheu; Adrian war der Sohn ihrer Herrschaft, und man hatte ihr jahrelang eingeredet, daß das, was gerade geschah, niemals geschehen durfte.
    Sie löste sich von ihm, ganz kurz nur, lächelte und flüsterte ein wenig atemlos: »Ungeschickt?«
    Adrian mußte lachen. »Jetzt siehst du mich an wie eine meiner Schwestern, wenn sie dir ein Bild gemalt hat.«
    »Findest du?« fragte sie, fuhr mit den Fingern durch das Haar an seinem Hinterkopf. Sie zog ihn zu sich und preßte die Lippen auf seine.
    Draußen scharrten die Pferde der Eskorte ungeduldig im Sand. Der Wind strich singend durch die Berge und ließ das blühende Grasmeer erzittern. Cendrines Herzschlag pulsierte so laut in ihren Ohren, daß er alles andere übertönte. Sie fragte sich, ob Adrian trotz seiner Taubheit seinen eigenen Puls wahrnehmen konnte. Als sie die Augen aufschlug, ohne daß sie die Lippen voneinander lösten, las sie in seinem Blick eine solche Erleichterung und zugleich eine solche Sorge, daß ihr ganz schwindelig wurde.
    »Hast du Angst?« fragte sie leise. Nur eine Fingerbreite lag zwischen seinem Mund und ihrem, und erst nach einigen Sekunden wurde ihr klar, daß er ihre Lippen nicht sehen und ihre Worte daher nicht ablesen konnte. Sie wollte ein Stück zurückweichen und die Frage wiederholen, doch Adrian hielt sanft ihren Kopf fest.
    »Ich habe Angst«, bestätigte er zu ihrem Erstaunen. »Um dich.«
    Ein verwundertes Lächeln flackerte über ihr Gesicht. »Kannst du nicht nur Lippen, sondern auch Gedanken lesen?«
    » Deine Gedanken, ja.«
    Er sagte das nicht aus einer romantischen Stimmung heraus, vielmehr meinte er es genau so, wie er es sagte. Er konnte erkennen, was in ihr vorging, und er erwartete dasselbe von ihr. Beim letztenmal, als sie darüber gesprochen hatten, hatte er ihr zum Vorwurf gemacht, in sein Inneres zu horchen. Damals war es ihm peinlich gewesen. Jetzt nicht mehr. Sie sah ihm an, daß es ihm nur recht war, daß sie seine Gedanken auskundschaftete.
    Es fiel ihr nicht halb so schwer, wie sie geglaubt hatte. Vielleicht, weil

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