Göttin der Wüste
achthundert.«
»Es wird Wochen dauern, ehe ich überhaupt dort ankomme!« entfuhr es Cendrine.
Madeleine hob die Schultern. »Es wird eine anstrengende Fahrt werden, dessen bin ich sicher. Sorgen Sie nur dafür, daß es sich lohnt.«
Cendrine war noch immer ganz schwindlig, und sie hatte nicht das Gefühl, daß sich ihre Verwirrung in den nächsten Stunden legen würde. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, brachte sie hervor. Ihre Stimme klang, als hätte sie seit Minuten vergessen, Luft zu holen.
Madeleines Lächeln wurde immer breiter, wie das einer Mutter, die für ihre Tochter den besten aller Schwiegersöhne auserkoren hat.
»Beruhigen Sie sich erst einmal. Denken Sie über alles nach. Und packen Sie einen großen Koffer.«
Cendrine nickte mechanisch. In Gedanken war sie schon unterwegs. Dann aber fiel ihr ein, was sie die ganze Zeit über schon hatte fragen wollen: »Warum tun Sie das für mich?«
Madeleines Antwort kam rasch, ohne nachzudenken. »Sie gehören jetzt zur Familie, mein Kind. Für meine Tochter würde ich dasselbe tun. Titus hat das vielleicht ein wenig früher erkannt als ich, aber ich schätze, wir haben mit Ihnen einen ganz guten Fang gemacht.«
»Und Sie wollen wirklich, daß ich dorthin fahre?«
»Wollen Sie es denn?«
»Natürlich … ja, ich glaube schon.«
»Überlegen Sie es sich«, sagte Madeleine. »Und haben Sie keine Angst. Sie haben es von Bremen bis hierher geschafft, da werden Sie das kleine Stück bis zu Ihrem Bruder auch noch bewältigen, meinen Sie nicht?«
***
Als Cendrines Entschluß endlich feststand, wurde ihr klar, daß alles Nachdenken und Grübeln sinnlos gewesen war. Sie hätte sich auch dann entschieden, Elias’ Einladung anzunehmen, wenn sie dafür geradewegs über das Schlachtfeld der Herero-Rebellen hätte reisen müssen – zu Fuß, ohne Wasser und mit einer Horde blutrünstiger Eingeborener im Nacken. Sie mußte ihn einfach wiedersehen.
Dennoch: Nun, da ihr Bruder endlich greifbar war – ganz gleich, wie viele Kilometer er in Wirklichkeit auch entfernt sein mochte –, fühlte sie in sich nichts als Unruhe. Mehrfach hatte sie sich selbst die Frage gestellt, ob sie das Anwesen tatsächlich verlassen wollte. Dieses Gebäude, mochte es noch so groß und verwinkelt und furchteinflößend sein, war jetzt ihr Zuhause, und ihr Leben hier war komfortabel und angenehm. Sollte sie all das aufgeben, wenn auch nur für die geplanten zwei Monate, um einen Bruder zu besuchen, der es nicht einmal für nötig gehalten hatte, ihr hin und wieder einen Brief zu schreiben?
Zwei Monate – einer davon allein für die Hin- und Rückreise – schienen ihr plötzlich wie eine endlos lange Zeit. Sie würde in diesen Wochen die Mädchen nicht sehen, an die sie sich so gewöhnt hatte, und sie wußte jetzt schon, daß die beiden ihr fehlen würden. Wahrscheinlich würde sie sogar Adrian vermissen; Adrian mit seinen geheimnisvollen Andeutungen; Adrian, der ihr trotz all seiner Merkwürdigkeiten immer enger ans Herz gewachsen war. Sie sprachen nicht oft miteinander, und wenn doch, gaben sie sich beide alle Mühe, nichts zu erwähnen, das auch nur im entferntesten mit Schamanen, wundersamen Geisteskräften und verborgenen Begabungen zu tun hatte. Aber da war etwas, allein schon in dem Wissen um die Möglichkeit, mit ihm darüber sprechen zu können, das ungemein beruhigend war.
Sie hatte weitere Beweise für die Existenz ihrer Fähigkeiten gefunden, keiner so spektakulär wie ihre Visionen vom Mord an Kimberly Selkirk, und keiner so grausam wie das, was sie dem kleinen San in Windhuk angetan hatte – vorausgesetzt, sie hatte es ihm tatsächlich angetan! Doch allmählich war sie davon abgekommen, stets und ständig für alles Gegenargumente finden zu wollen. Das Zauberwort heißt glauben , hatte Pfarrer Haupt gesagt. Und, ja, allmählich glaubte sie – an sich und an die Kräfte in ihrem Inneren. Sie hatte herausgefunden, daß es der einfachste Ausweg aus ihrem Dilemma war: Der Glaube verlangte keine Erklärungen. Und gerade an Erklärungen litt sie den größten Mangel.
Der Weg zur Skelettküste führte quer durch den nördlichen Teil des Landes. Sie hatte die kartographischen Werke in der Galerie studiert, sich aber bald schon gewünscht, sie hätte es nicht getan. Die Reiseroute zog sich von Windhuk aus nach Norden über Karibib und dann geradewegs durch das berüchtigte Kaokoveld, den nördlichen Teil der Namibwüste.
Der Begriff »Skelettküste« fand sich auf
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