Göttin der Wüste
keiner Karte. Die Einheimischen hatten den Ozeangestaden des Kaokovelds diesen Namen gegeben, weil dort seit Jahrhunderten zahllose Schiffswracks angespült wurden. War es den schiffbrüchigen Matrosen erst einmal gelungen, sich lebend an Land zu retten, sahen sie sich den Schrecken der Namib gegenüber, Kilometer um Kilometer totes Dünenland, ohne Menschen, ohne Nahrung, ohne Trinkwasser. Die Küste war übersät mit Schiffwracks, – Hunderten, hieß es in einem der Reiseberichte –, und die vom Sand bleichgeschliffenen Gerippe dazwischen gehörten nicht nur toten Seeleuten, sondern auch ganzen Heerscharen von Abenteurern, die den Legenden von gestrandeten Goldkisten und unermeßlichen Reichtümern in den Tod gefolgt waren.
In der Nacht lag Cendrine lange wach und fragte sich, ob sie wohl von allen guten Geistern verlassen sei, ausgerechnet an einen solchen Ort zu reisen. Aber sie hatte natürlich keine Wahl. Das Wiedersehen mit Elias war wichtiger.
Am folgenden Morgen teilte sie den anderen beim Frühstück ihre Entscheidung mit. Madeleine beglückwünschte und umarmte sie, und die Mädchen hüpften aufgeregt um sie herum – unsicher, ob sie sich über die schulfreien Wochen freuen oder Cendrines Abschied betrauern sollten. Adrian hingegen blieb zurückhaltend. Nach außen hin gab er vor, sich für sie zu freuen, doch Cendrine merkte ihm an, daß ihn die Vorstellung schmerzte, sie so lange nicht zu sehen. Um nichts in der Welt hätte sie zugegeben, daß es ihr insgeheim genauso ging.
Madeleine hatte eine der Kutschen, einen Pferdelenker und zwei Bewaffnete für sie abgestellt. Alle drei Männer waren San, aber Cendrine stellte schon bald fest, daß sie zu jener Gruppe gehörten, die den Kaskadens bedingungslos ergeben war. Die beiden Bewacher waren dieselben, die an dem Tag, als sie mit Salome und Lucrecia zum Dorf gegangen war, am Tor gestanden hatten. Auch jetzt zeigten sie Cendrine gegenüber Respekt, einer erkundigte sich sogar besorgt, ob sie aufgeregt sei. Cendrine beschloß, den beiden zu vertrauen. Den Kutscher kannte sie nur vom Sehen, doch auch er, so beruhigte Madeleine sie, war einer der treuesten Bediensteten des Haushalts.
Natürlich hatten diese drei, obgleich sie mit Gewehren und Revolvern bewaffnet waren, einer Horde rebellischer Herero nichts entgegenzusetzen. Sie waren eher zur Abwehr von Raubtieren oder vereinzelten Wegelagerern gedacht; größeren Auseinandersetzungen waren sie schwerlich gewachsen. Allerdings hatte sich das Kampfgebiet, in dem Aufständische und Schutztruppe noch immer erbittert miteinander fochten, in den vergangenen Wochen weiter nach Osten verlagert; schon hieß es, die Rebellion der Herero sei so gut wie niedergeschlagen. Daß jedoch noch kein Grund zu derartigem Optimismus bestand, verriet die Tatsache, daß Valerians Kompanie nach wie vor in der Omaheke stationiert und von einer baldigen Rückkehr keine Rede war.
In ihrer Aufregung über das bevorstehende Wiedersehen mit Elias rückten alle Hindernisse und Widrigkeiten für Cendrine in den Hintergrund. Sie konnte jetzt nicht darüber nachdenken, was geschehen mochte, wenn sie den Rebellen in die Hände fiel. Zudem berichtete ihr Adrian, daß das Kaokoveld zwar traditionsgemäß Hereroland sei, die dortigen Stämme jedoch nicht mit den Aufständischen im Osten unter einer Decke steckten. Die Herero, die im Norden der Namib lebten, kamen kaum in Kontakt mit den weißen Kolonisten, und so hegten sie auch keinen Haß gegen sie. Cendrine ließ sich beruhigen, weil sie beruhigt werden wollte.
Zwei Tage nach dem Eintreffen von Elias’ Brief bestieg sie die Kutsche, während Johannes überprüfte, ob alle Gepäckstücke ordnungsgemäß verstaut und vertäut worden waren. Cendrine hatte einen großen Stapel Bücher aus der Galerie unterm Arm, die sie nun unter den beiden Sitzbänken verstaute. Dann stieg sie noch einmal aus, ließ sich von Madeleine umarmen und drückte die weinenden Mädchen fest an sich.
»Es ist doch nur für zwei Monate«, versuchte sie die beiden zu trösten.
Lucrecia nickte tapfer, und Salome preßte die Lippen fest aufeinander. Ihre Tränen versiegten nicht, aber sie versuchte sehr erwachsen und vernünftig auszusehen. Der Anblick brach Cendrine fast das Herz.
Zuletzt reichte Adrian ihr zum Abschied die Hand. Er wirkte sehr förmlich, beinahe steif. Cendrine sagte sich, daß es wahrscheinlich besser so war. Vielleicht hatte sie seine Zuneigung auch einfach überschätzt. Obwohl es ihr weh
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