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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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bedanken, brachte aber noch immer kein Wort heraus, und als Madeleine ihr mit gütigem Lächeln zunickte, begriff sie, daß ein Dank in diesem Augenblick gar nicht nötig war. Plötzlich stand Johannes neben ihr und reichte ihr stumm ein sauberes Messer. Sie griff mit zitternder Hand danach, und Sekunden später hatte sie das Kuvert geöffnet. Ungeduldig zog sie das Schreiben hervor. Es war ein einzelnes Blatt, zweifach gefaltet, weiß und schlicht, kein bedrucktes Briefpapier.
    Elias’ Handschrift hatte sich seit damals nicht verändert. Seine Buchstaben waren schmal und hoch und leicht nach rechts geneigt. Außerdem verzichtete er noch immer auf den Querstrich des kleinen T. Vor vier Jahren, nachdem Cendrine gelernt hatte, wie man Kindern das Schreiben beibringt, hatte sie diese Marotte fast in den Wahnsinn getrieben.
    Der Brief war nicht lang, und Elias’ Tonfall war nicht so locker und ironisch wie früher. Er verlor kein Wort darüber, ob es ihn überrascht hatte, zu erfahren, daß sich Cendrine in Südwest aufhielt. Statt dessen berichtete er in wenigen Sätzen, daß er wohl doch nicht zum Rinderzüchter tauge und sich daher auf das besonnen habe, was er gelernt habe. Er führe jetzt eine kleine Handelsstation im Nordwesten des Landes, an der Skelettküste, unweit der Mündung eines Flusses namens Engo. Es gehe ihm gut, schrieb er, und er habe Cendrine oft vermißt. Er verlor kein Wort darüber, warum er aufgehört hatte, ihr zu schreiben.
    Erst am Ende des Briefs, als sie schon spürte, daß ihr die Enttäuschung die Tränen in die Augen trieb, lud er sie endlich zu sich ein.
    »Du kannst jederzeit kommen, kleine Schwester«, schrieb er, und zum erstenmal schwang in den Worten wieder die Unbefangenheit des alten Elias mit. »Komm her, sobald es dir möglich ist. Ganz egal wie, nur komm schnell. Ich freue mich auf dich.« Und dann noch: »Ich habe dich vermißt.«
    Sie wollte den Brief ein zweites und drittes Mal lesen, aber sie spürte noch immer die Blicke der Kaskadens auf ihrem Gesicht, und sie schämte sich des Glitzerns in ihren Augen. Widerstrebend ließ sie den Brief sinken, konnte aber den Blick nicht davon abwenden.
    »Erzählen Sie doch!« platzte es aus Salome heraus, und Lucrecia fiel mit ein: »Was schreibt Ihr Bruder, Fräulein Muck? Warum sagen Sie denn nichts?«
    »Kinder«, sagte Madeleine streng, »ihr dürft ins Spielzimmer gehen. Jetzt gleich.«
    »Aber der Unterricht«, entgegnete Salome in altklugem Tonfall. Es war das erstemal, das eines der Mädchen auf seine Schulstunden pochte.
    »Fällt heute aus«, ergänzte Madeleine lächelnd. »Los jetzt, verschwindet!«
    »Ööhh«, machte die Zwillinge im Chor, standen betont langsam auf und gingen zur Tür. Dort blieb Salome noch einmal stehen und wandte sich direkt an Cendrine: »Er hat doch etwas Nettes geschrieben, ja? Sie freuen sich doch darüber, oder?«
    Cendrine nickte und blinzelte eine Träne aus ihrem rechten Auge. Sie schenkte dem Mädchen das fröhlichste Lächeln, das sie in diesem Moment zustande bringen konnte. Salome strahlte zufrieden, dann fuhr sie herum und folgte ihrer Schwester aus dem Zimmer. Cendrine hörte sie draußen miteinander tuscheln.
    »Sie wirken nicht besonders glücklich«, bemerkte Adrian und sah sie durchdringend an.
    »O doch«, gab sie hastig zurück. »Es ist nur … ich habe seit zwei Jahren nichts mehr von meinem Bruder gehört. Es ist so –«
    »Überwältigend?« fragte Madeleine. Sie wirkte sehr zufrieden mit dem, was sie und Titus erreicht hatten.
    »Ungewohnt«, sagte Cendrine.
    Madeleine lächelte ihr aufmunternd zu. »Sie werden sich schon daran gewöhnen. Er hat Sie doch eingeladen, oder? Ich meine, daß ist das mindeste, was er tun kann.«
    »Ja. Er bittet mich, ihn zu besuchen. Aber ich habe doch meine Arbeit hier im Haus. Der Unterricht der Mädchen –«
    »Kann warten«, sagte Madeleine. »Die beiden werden sich über ein paar Wochen Ferien sicher freuen.«
    »Sie meinen –«
    »Auch Sie haben Anspruch auf Urlaub, mein Kind. Außer einer Handvoll Nachmittage haben Sie in dem Jahr, seit Sie hier sind, nie frei gehabt.« Sie lachte hell auf. »In Windhuk wird man uns schon nachsagen, wir seien Sklavenhalter. Nein, nein, Fräulein Muck, Sie werden Ihren Bruder besuchen, und zwar so schnell Sie nur können.«
    »Aber diese Skelettküste, ich meine, dort, wo er lebt, das ist doch bestimmt tausend Kilometer von hier entfernt!«
    »Nicht ganz«, sagte Adrian trocken. »Eher

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