Göttin des Frühlings
zu Hades, dass meine Tochter in der Unterwelt eintrifft«, befahl Demeter dem Vogel. »Sag ihm, dass die Erntegöttin seine Gastfreundschaft und seinen Schutz zu schätzen weiß, wenn der Frühling das Land der Toten besucht.« Demeter schüttelte den Arm, und der Rabe erhob sich elegant in den Wind und verschwand zwischen den Bäumen.
»Befriedigt das dein Verantwortungsgefühl?«, fragte die Göttin.
»Ja, danke«, erwiderte Lina und eilte der strengen Göttin nach.
Demeter kam zu einer Erhebung in der Landschaft, die die Baumgrenze markierte. Sie wartete, dass Lina und Eirene zu ihr aufschlossen, doch Lina hatte die Augen nicht auf die Göttin gerichtet. Sie ruhten auf dem unglaublichen Anblick vor ihr.
»Oh!« Sie atmete so heftig aus, dass ihr fast schwindelig wurde. »So was habe ich noch nie gesehen … das ist … das ist …«
»Das ist der Averner See.« Zum ersten Mal hatte Eirenes Stimme ihren bissigen Ton verloren. »Dahinter liegt die Bucht von Neapel.«
»Wie wunderschön«, sagte Lina. Sie fand keine anderen Worte, um die beeindruckende Aussicht zu beschreiben. Der See erstreckte sich vor ihnen wie ein gewaltiger saphirgrüner Spiegel. Auf seiner Oberfläche tanzte glitzernd das Licht und hauchte ihm Leben ein, so dass die glatte Fläche spielerisch funkelte. Am Ufer standen keine Bäume; filigrane Farne umrahmten das Wasser mit dem sanften Ton dunklen Grüns. Jenseits des Sees harrte das Meer, das durch seine helleren Blau- und Türkistöne wie das weibliche Gegenstück zum dunkleren inländischen Gewässer wirkte.
»Du fängst gerade erst an, die Wunder dieser Welt kennenzulernen, Lina«, sagte Demeter.
7
Die wissenden Schritte der Göttin fanden einen schmalen Pfad, der offenbar um den See herumführte. Demeter wandte sich nach rechts und folgte einer sanften Kurve, die geradewegs auf eine tunnelartige Öffnung in einer gewaltigen Gesteinsformation am Seeufer zusteuerte. Als sie sich dem Tunnel näherten, erkannte Lina, dass die glatten Felswände mit phantasievollen Fresken bemalt waren, die feiernde, lachende und liebende Götter und Göttinnen zeigten. Doch schon bald wurden die Bilder von der Dunkelheit verschluckt.
Lina bekam einen trockenen Hals. Die Dunkelheit erinnerte sie an eine Gruft.
Demeter schritt voran, marschierte in den Tunnel. Als Lina zögerte, fuhr die Göttin sie an: »Nun, du musst schon mitkommen. Wie soll unser Weg sonst beleuchtet werden?«, mahnte sie.
»Beleuchtet?«, wiederholte Lina und merkte, dass sie sich wie ein Dummkopf anstellte.
Eirene seufzte. »Du bist die Frühlingsgöttin. Benutze deine Kräfte.«
Lina runzelte die Stirn.
»Lausche in dich hinein,
Persephone
«, sagte Demeter ganz langsam. »Dein Körper weiß Bescheid.«
Ihre wachsende Furcht verdrängend, konzentrierte sich Lina. Licht. Wenn sie Licht machen konnte, wie würde sie das tun?
Denk nach!
befahl sie sich. Eine vage Idee kam ihr in den Sinn. Sie hob die rechte Hand auf Augenhöhe. Es war eine wunderschöne Hand. Milchigweiß wie frischer Rahm, glatt und faltenlos – anders als ihre verbrauchte, bald vierzigjährige Hand. Wenn sie es Licht werden lassen konnte, würde sie es so tun, wie sie so viele andere wichtige Dinge in ihrem Leben getan hatte – mit den Händen. Und auf einmal wusste sie es. Sie drehte die Handfläche nach oben und schickte einen schlichten Gedanken in ihren Arm.
Ich hätte gerne Licht, bitte.
Mit einem kecken Ploppen stieg eine kleine leuchtende Kugel aus ihrem Handteller und schwebte wenige Zentimeter darüber. Zufrieden mit sich, lächelte Lina Demeter über das Licht hinweg an.
»So würde ich Licht erzeugen.«
»Gut gemacht, Persephone«, sagte Demeter. Die Göttin wies mit dem Kinn in den unergründlichen Tunnel.
Lina drückte die Schultern durch und machte einen Schritt nach vorn. Die Lichtkugel schwebte hinter ihr.
»Du musst ihr befehlen, bei dir zu bleiben«, sagte Demeter.
Die Göttin stand am Rande der Dunkelheit, so dass Lina es nicht genau erkennen konnte, aber sie meinte, Demeter tatsächlich lächeln zu sehen.
»Los, komm! Bleib bei mir!«, sagte Lina zum Licht. Sofort preschte es nach vorn, stieß ihr fast gegen den Kopf. Lina zuckte zurück und blinzelte in die Helligkeit. »Neben mir, nicht auf mir«, flüsterte sie dem glühenden Ball zu, und er suchte sich einen Platz direkt über ihrer rechten Schulter. »Etwas höher, du blendest mich.«
Die Kugel stieg einen Zentimeter höher.
»Genau da. Gut gemacht.« Vor Freude über
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