Göttin des Frühlings
»… meine Mutter, und ich wäre wirklich dankbar für ein Gespräch, um mich von dem Gedanken an sie abzulenken.«
»Mir fehlt meine Mutter auch«, flüsterte Eurydike.
»Das tut mir leid. Ich wollte dich nicht daran erinnern, dass …« Lina verstummte.
»So schlimm ist es nicht, meine Göttin«, beeilte sich Eurydike zu versichern. »Obwohl ich noch nicht so lange tot bin, glaube ich, dass ich langsam zu verstehen beginne.«
Als das Mädchen nicht weitersprach, forderte Lina es auf, den Gedanken zu Ende zu führen. »Komm, ich möchte gerne wissen, was du langsam zu verstehen beginnst.«
»Die Schmerzen in der Welt der Lebenden verblassen bereits. Ich vermisse meine Mutter und … na ja … andere, aber ich weiß, dass ich irgendwann wieder mit ihnen vereint sein werde. Ich bin schließlich immer noch ich selbst.« Eurydike streckte den Arm aus, so dass Linas Licht durch ihre zarten Glieder schien. »Mein Körper hat sich ein wenig verändert, aber mein Geist und mein Herz sind dieselben geblieben, was mir eine große Erleichterung ist. Damit will ich sagen, ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Angst vor dem Tod schlimmer ist als der Tod selbst.« Der junge Geist sprach immer schneller.
Lina lächelte Eurydike an. »Du bist sehr weise.«
»Oh, nein«, sagte das Mädchen und schüttelte heftig den Kopf, so dass sein durchsichtiges blondes Haar wie hauchdünnes Gespinst schwebte. »Wenn ich wirklich weise wäre, hätte ich keine Fehler gemacht.«
Bevor Lina das Mädchen noch weiter befragen konnte, verließen sie das Wäldchen aus weißen Bäumen und fanden sich vor einem gewaltigen Elfenbeintor wieder. Dahinter erkannte Lina einen glatten schwarzen Pfad, der sich wie ein dünnes Band in die ewige Dunkelheit wand.
»Wir müssen hindurch und dem Pfad folgen«, erklärte Eurydike. »Er bringt uns zu Charon.«
Lina musste nicht auf Persephones Wissen zurückgreifen; sie kannte den Namen des Fährmanns der Unterwelt. Sie nickte Eurydike zu und streckte die Hand aus, um das Tor aufzustoßen, doch das elfenbeinerne Gebilde wich vor ihrer Berührung zurück. Im selben Moment ließ ein sirrendes Geräusch die Dunkelheit vor ihnen erbeben, ein Nebel quoll von der anderen Seite des Tors hervor und hüllte Lina in kalten grauen Dunst. Er verbreitete Furcht wie ein tosender Fluss. Albtraumhafte Klänge bestürmten ihre Sinne und erinnerten Lina an alle schlimmen Träume, die sie je gehabt hatte. Ihre erste Reaktion war, sich die Ohren zuzuhalten und schreiend davonzulaufen, doch ihr ruhiger Wesenskern hielt sie zurück und ermunterte ihr verängstigtes Hirn.
Das sind lediglich schlechte Träume, die harmlosen Nebel vergessener Albträume. Du bist eine Göttin; sie können dir keine Angst machen. Schicke sie fort, dann werden sie gehorchen.
Lina zwang sich, die Hände sinken zu lassen, richtete sich auf und schüttelte sich wie eine Katze, die das verhasste Wasser aus dem Fell entfernen will.
»Fort mit euch, ihr schlechten Träume!«, befahl sie und atmete erleichtert auf, als der Nebel sich verzog.
»Du hast ihn vertrieben. Oh, vielen Dank, meine Göttin.«
Eurydike war nah an sie herangekommen, berührte sie beinahe. Lina sah die Angst in ihren blassen Augen.
»Der Nebel hätte dir nichts antun können, Eurydike. Es war nur der Nebel von Albträumen«, versicherte sie dem Mädchen mit einem kurzen Lächeln. »Sicherlich unangenehm, aber nicht gefährlich.«
»Ich habe Albträume noch nie gemocht«, sagte Eurydike und schaute sich furchtsam um.
»Schätzchen, die mag keiner. Deshalb nennt man sie ja schlechte Träume. Denke nicht länger darüber nach – sie sind Vergangenheit.« Das Elfenbeintor stand offen, Lina wies auf den dunklen Pfad. »Hast du nicht gesagt, dass wir diesen Weg nehmen müssen?«
»Ja, meine Göttin.«
»Nun gut, gehen wir los.«
Lina schritt durch das Tor.
Eurydike folgte dicht hinter hier. Die Straße unter den weichen Lederpantoffeln, die Persephones anmutige Füße zierten, fühlte sich kühl und hart an. Lina bückte sich, um sie zu berühren.
»Marmor«, murmelte sie und spähte in die Ferne. »Es sieht aus, als wäre sie aus einem einzigen Block schwarzen Marmors gemacht.« Sie erhob sich wieder und ging los. Eurydike hielt sich an ihrer Seite, die Lichtkugel schwebte zwischen ihnen. »Und es wäre mir wirklich lieb, wenn du mich bei meinem Namen nennen würdest.«
»Aber du bist eine Göttin.« Das Mädchen schien entsetzt angesichts Linas Bitte.
»Und ich habe
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