Göttin des Frühlings
einen Namen. Ich finde, ›Göttin‹ klingt so steif und förmlich. Schließlich bin ich die Göttin des Frühlings, und der Frühling ist alles andere als steif und förmlich.« Lina lauschte in sich hinein. Es kam ihr vor, als sei das Echo von Persephone zufrieden mit dem, was sie gesagt hatte. Plötzlich fragte sich Lina, was das eigentlich für eine Frau war, in deren Körper sie wohnte. Wie war sie so? Lina schaute an sich hinab. Dass sie schön war, lag auf der Hand, aber war sie dabei arrogant und egoistisch? Oder war sie eine gütige Göttin, die andere gut behandelte?
»Dann wird es mir eine Ehre sein, dich Persephone zu nennen«, unterbrach Eurydikes Stimme Linas Gedanken. Aufmunternd lächelte sie dem Mädchen zu. »Gut!« Das war zumindest ein Anfang.
Sie liefen in einvernehmlichem Schweigen. Lina betrachtete die Umgebung. Langsam konnte sie zu beiden Seiten der Straße unterschiedliche Schattierungen von Dunkelheit ausmachen. Auf den ersten Blick wirkte es, als sei alles ins Schwarz einer sternenlosen Nacht getaucht, doch allmählich gewöhnten sich Linas Augen an das mangelnde Licht, und sie erkannte Schatten und Umrisse in der Düsternis. Das Land, das sich zu beiden Seiten erstreckte, erinnerte sie an ein dunkles Moor; sie konnte sogar die fedrige Silhouette grauen Laubs und dicker Grasbüschel ausmachen, die sich unvermittelt in der Windstille bewegten.
Dann kam etwas näher, das langsam besser zu erkennen war: ein alter Mann, der stark vornübergebeugt ging. Humpelnd machte er einen Schritt voran, doch der nächste ging rückwärts, dann machte er wieder einen Schritt nach vorn. Seine wässrigen Augen blinzelten Lina blind an. Als sie sich gerade fragte, ob sie ihm helfen solle, manifestierte sich eine zweite Gestalt in der Dunkelheit. Es war eine Frau. Sie sah ungefähr so alt aus wie Lina und kauerte im schattigen Gras, schreckte vor einem unsichtbaren Angreifer zurück. Linas erster Gedanke war, zu ihr zu gehen, doch die Stimme in ihrem Kopf hielt sie zurück.
Du kannst ihnen nicht helfen. Das sind das Alter und die Angst. Sieh dich um! Trauer, Sorge, Hunger, Krankheit und Marter werden sich zu ihnen gesellen.
Lina sah, wie neben den ersten beiden andere geisterhafte Gestalten Form annahmen. Sie wirkten elend und erbärmlich. Bei ihrem Anblick zog sich Linas Magen zusammen.
Sie alle sind Teil der sterblichen Existenz. Ihnen kann nicht geholfen werden. Man kann sie nur überwinden. Verweile nicht hier.
Lina stellte fest, dass sie beinahe stehengeblieben war und Eurydike sich ängstlich umschaute.
»Ich glaube, wir müssen uns beeilen. Du hast eine Verabredung mit der Ewigkeit, und ich komme nur ungern zu spät, du vielleicht? Das wäre unhöflich«, sagte Lina fröhlich und steigerte ihr Tempo, so dass Eurydike fast laufen musste, um mit ihr Schritt zu halten. Lina hörte die Trauer hinter ihnen heulen und erschauderte, sah sich aber nicht um. Stattdessen konzentrierte sie sich auf mehrere weich glühende Umrisse, die vor ihnen über den Pfad schwebten. Auch wenn sie sie noch nicht deutlich erkennen konnte, spürte Lina keine Gefahr oder Feindseligkeit von ihnen ausgehen. Auch ihre innere Stimme war ruhig, was sie als gutes Zeichen deutete.
»Was das da vorne wohl ist?«, fragte sie beiläufig das schweigende Mädchen an ihrer Seite.
»Ich denke, das sind solche wie ich«, sagte Eurydike langsam.
Lina verdrängte ihre unmittelbare Befangenheit. Schließlich war sie im Land der Toten. Hatte sie wirklich geglaubt, hier nicht auf Tote zu stoßen? Das war fast so, als würde sie hoffen, in einer Bäckerei keine Brote zu finden, schalt sie sich streng.
»Nun, dann wissen wir immerhin, dass wir in die richtige Richtung gehen.« Sie lächelte Eurydike an.
»Du wusstest, dass es der richtige Weg ist«, entgegnete das Mädchen und lächelte scheu zurück.
»Weil ich so eine gute Führerin habe«, erwiderte Lina, und Eurydikes Lächeln wurde breit und ließ ihr blasses Gesicht vor Freude erröten. Als sie die ersten geisterhaften Gestalten überholten, versuchte Lina, sich die Wärme dieses Lächelns in Erinnerung zu rufen.
Auf dem Weg stand eine junge Frau, und wieder überraschte sich Lina bei dem Gedanken, dass auch dieses Mädchen fast jung genug war, um ihre Tochter zu sein. Der Geist trug ein Bündel bei sich, das er verbarg und an seine Brust drückte, doch Lina merkte, dass es sich dabei um einen Säugling handelte. Der leere Blick der Frau löste sich von der dunklen Landschaft und
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