Göttin des Frühlings
streifte Eurydike, ohne seinen Ausdruck zu verändern, doch als die Tote Lina entdeckte, riss sie die umschatteten Augen auf, und ihr Gesicht war plötzlich ganz lebendig.
»Ist es wahrhaftig die Göttin des Frühlings, die inmitten der Toten wandelt?« Ihre Stimme war belegt vor Rührung.
Nach leichtem Zögern antwortete Lina: »Ja, ich bin Persephone.«
»Oh!« Die jüngst verstorbene Frau legte sich die durchsichtige Hand auf den Mund, als wolle sie ihre Gefühle zurückhalten. Sie holte tief Luft und sagte: »Dann ist diese dunkle Reise doch nicht so hoffnungslos. Nicht wenn hier eine Göttin zugegen ist.«
Aus dem Augenwinkel sah Lina Eurydike lächeln und nicken. Der geflüsterte Name Persephones wurde wie eine sanfte Welle immer weiter durch die Ansammlung leuchtender Geister getragen, von der sie plötzlich umgeben waren.
»Persephone!«
»Es ist die Frühlingsgöttin!«
»Sie ist gekommen, um Licht auf unsere trübe Reise zu werfen!«
Eine Gestalt nach der anderen kam auf Lina zu. Es waren Geister in allen Altersstufen und Erscheinungsformen, von betagten krummen Männern bis zu Jünglingen, die mit dem Überschwang der Jugend zwischen den alten Toten umherhuschten. Bei manchen konnte man Wunden sehen, offensichtliche Schwertverletzungen färbten ihre ansonsten blassen Körper purpurrot. Bei anderen entdeckte man wie bei Eurydike und der jungen Mutter keine Hinweise, doch egal in welchem Zustand ihre physische Erscheinung war – sie hatten alle eines gemeinsam: den Ausdruck von Freude und neu erwachter Hoffnung beim Anblick von Persephone.
Lina staunte über ihre eigene Reaktion auf den Kontakt zu den Totengeistern. Sie machten ihr überhaupt keine Angst. Sie ertrug sogar den Anblick tödlicher Verletzungen, so lange sie nicht zu lange hinschaute und sich stattdessen auf die Augen der Person konzentrierte. Dort konnte Lina das in jeder Seele schimmernde Licht erkennen, wenn sie lächelnd mit einem Blick grüßte, der, so hoffte sie, als aufrichtige Anteilnahme erkannt wurde.
Während Lina und Eurydike dem dunklen Pfad folgten, wuchs die Zahl der Toten um sie herum. Lina stellte fest, dass Demeter nicht übertrieben hatte. Die Geister brauchten sie offensichtlich. Sie reagierten auf ihre Gegenwart wie die Wüste auf einen Regen. Verdorrt nahmen sie ihr Lächeln und ihren Gruß auf. Ununterbrochen wurde um sie herum geflüstert, es wurden Worte in Sprachen gemurmelt, die sie nicht kannte, aber verstand. Überwältigt versuchte Lina, nicht an die Vielzahl der Geister zu denken. Einer nach dem anderen, mahnte sie sich immer wieder. Denke sie dir als erwartungsvolle Kunden, nicht als eine gesichtslose Totenschar.
Als würde Eurydike ihr wachsendes Unbehagen spüren, blieb sie dicht bei Lina und achtete darauf, dass die Göttin nicht stehenblieb.
»Ich kann das Marschland schon sehen«, flüsterte der kleine Geist Persephone zu. »Dort werden wir in Charons Boot steigen, der uns über den See zu den elysischen Gefilden bringt. Der Palast von Hades liegt am Rande dieser Felder. Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir dort eintreffen.«
Lina bedankte sich bei Eurydike, da wurde der Weg von ihnen plötzlich erschüttert, der schwarze Marmor barst mit einem ohrenbetäubenden Krachen und legte eine Öffnung im Boden frei, die wie der Schlund eines Riesen klaffte. Mit erschrockenen Schreien huschten die Seelen der Toten davon und ließen Lina und Eurydike allein vor dem dunklen Rachen zurück.
8
»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«, schrie Lina, zu entsetzt, um ins Italienische zu wechseln, als sich die Erde zu ihren Füßen auftat. Sie ruderte mit den Armen, um nicht vornüber zu fallen, dann griff sie hastig nach der kalten, durchsichtigen Hand Eurydikes und zog das Mädchen mit sich zurück. Kurz darauf stürzten vier ebenholzschwarze Hengste aus der Öffnung auf Lina und Eurydike zu. Eindrucksvoll schlugen Feuerzungen schnaubend aus ihren Nüstern.
»Hilf mir, meine Göttin!«, rief Eurydike.
Die verängstigte Stimme des Mädchens riss Lina aus ihrer staunenden Benommenheit. Sie ließ Eurydikes blasses Händchen los und trat den Pferden entgegen. Der Leithengst forderte sie mit einem durchdringenden Wiehern heraus, die Ohren flach an den enormen Schädel angelegt. Ihm näherte sich Lina als erstes.
Still hoffend, dass sie ihre Fähigkeit nicht in ihrem Körper zurückgelassen hatte, hielt Lina ihre Hand vor das gefährlich aussehende Maul des Tieres und sprach es liebevoll an: »Na, hallo, mein
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