Göttin des Frühlings
Hades ist ein Monument für den Gott der Unterwelt.«
Lina ließ sich Iapis’ Worte durch den Kopf gehen. Demnach hatte der strenge, grübelnde, asexuelle, tränenraubende Gott der Unterwelt die wunderbaren Dinge um sie herum selbst gefertigt. Er hatte angeblich das Auge eines Künstlers und ein feines Gespür für Gestaltung. Konnte ein leidenschaftsloser, langweiliger Gott solch erlesene, detailverliebte Schönheit erschaffen? Lina kannte sich nicht mit Unsterblichen aus, aber sie besaß das Wissen einer reifen Frau über sterbliche Männer und konnte sich keinen leidenschaftslosen Mann vorstellen, der zu so einer erstaunlichen Schöpfung fähig war.
»Mir gefallen die in die Wand geschnitzten Blumen«, sagte Eurydike und wies schüchtern auf die Kranzprofile, die alle Fenster und Rundbögen einfassten, die sie durchschritten.
»Ja, Hades mag die Narzisse sehr gern, er hat sie im Palast oft als Schmuckelement verwendet.« Iapis lächelte den kleinen Geist an.
»Es tut mir leid, heute habe ich offenbar meine guten Manieren vergessen«, sagte Lina. »Iapis, dies ist meine Freundin« – sie zögerte, als das Mädchen die Luft anhielt, weil die Göttin sie »Freundin« genannt hatte, und schaute die Kleine liebevoll an – »Eurydike«.
Iapis blieb stehen und verbeugte sich vor dem jungen Geist. Eurydike reagierte mit einem eleganten Knicks.
»Ich werde mich um Persephone kümmern«, sagte sie und überraschte Lina mit der Entschlossenheit in ihrer Stimme.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du deine Aufgabe bewundernswert erfüllen wirst«, sagte Iapis verständnisvoll. »Vielleicht sollten wir uns täglich austauschen, damit du mich über die Bedürfnisse der Göttin auf dem Laufenden halten kannst.«
»Ja, das ist eine gute Idee«, sagte Eurydike.
Lina hielt sich zurück. Sie wollte die fröhliche Miene der Kleinen nicht trüben. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie hatte jetzt einen Aufpasser.
»Sollen wir weitergehen, meine Göttin?«
Lina nickte und folgte weiter dem breiten Korridor. Eine Fensterreihe rechts von ihr gestattete einen herrlichen Blick auf den Hof des Palastes. Lina konnte schon nicht mehr zählen, wie viele Zimmer zu ihrer Linken abgegangen waren, hatte aber viele Blicke in schmuckvoll gestaltete Kammern und gelegentlich auf halb durchsichtige Gestalten erhascht, die um die Ecken huschten.
Ja, der wunderbare Palast des Hades könnte auf jeden Fall als Spukschloss durchgehen. Lina dachte an all die Dokumentarfilme, die sie im Laufe der Jahre gesehen hatte: »Spukhotels in Europa«, »Die zehn gruseligsten Herrenhäuser«, »Die offizielle Liste der Grusel-Pensionen«. Wieder huschte eine gespenstgleiche Gestalt am Rande ihres Blickfelds vorbei. Der Doku-Sender wäre wirklich begeistert von diesem Bauwerk.
Iapis leitete sie den scheinbar endlosen Korridor entlang. Mehrmals bogen sie ab, Lina wusste nicht mehr, wo sie war. Schließlich blieben sie vor einer großen Tür stehen, die mit einer silbernen Arbeit in Form einer blühenden Narzisse bedeckt war.
»Persephone, hier ist dein Gemach«, verkündete Iapis.
Wie schon bei Hades öffnete sich die Tür, ohne dass Iapis den silbernen Griff hätte berühren müssen.
Der süße Duft blühender Blumen nahm Lina in Empfang, als sie den Raum betrat. Große Sträuße aus mondfarbenen Blüten in Kristallvasen schmückten das prächtige Zimmer. An einer Wand waren raumhohe Fenster, die auf einen großen Marmorbalkon geöffnet werden konnten. Cremefarbene Samtvorhänge wurden von schweren silbernen Kordeln zurückgehalten. Der Blick auf die hinteren Parkanlagen war spektakulär. Fröhlich knisterte ein Feuer in einem gewaltigen Kamin. Mehrere Schränke aus dunklem Holz standen vor einer anderen Wand, dazwischen eine eindrucksvolle Frisierkommode, die sich fast bog vor Kosmetikartikeln. Doch es war das gewaltige Himmelbett, das Linas Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war das prächtigste Möbelstück, das sie je gesehen hatte. Die zu den Samtvorhängen passende Leinenwäsche war mit silbernen Stickereien kunstvoll verziert. Die Stoffbahnen des Himmels waren von einer blassen Farbe, die Lina an Nebel erinnerte – fast substanzlos in ihrer durchsichtigen Zartheit.
»Dein Bad befindet sich hinter dieser Tür, Göttin«, sagte Iapis und wies auf eine etwas kleinere, mit Silber verzierte Zimmertür. »Die Kleidung und die übrigen Gegenstände habe ich verstauen lassen. Bitte lass es mich wissen, wenn es nicht zu deinem Gefallen ist.«
»Es ist
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