Göttin des Frühlings
meinem Reich habe ich selbst geschaffen, und es unterscheidet sich so sehr von Apollos Gestirn wie ich vom Gott des Lichts.« Hades’ Stimme wurde scharf, sofort hatte er eine Abwehrhaltung eingenommen.
»Oh … nun ja …«, stammelte Lina verlegen. »Damit wollte ich nicht sagen, dass es mir nicht gefällt. Ganz im Gegenteil, ich finde es wunderschön. Es ist nur anders, mehr nicht.«
Hades schwieg. Er betrachtete die Göttin nur eindringlich mit seinen intensiven, ausdrucksstarken Augen. Lina fand, es sei kein Wunder, dass er nicht viele Gäste bekam; er war so unvorhersehbar wie eine Achterbahnfahrt. Seine Launen wechselten mit schwindelerregender Geschwindigkeit – es ging auf und ab. Vielleicht würde sie vor ihrer Abreise mit ihm noch darüber sprechen. So lange sie hier war und ihren Auftrag bei den Toten erfüllte, konnte sie Hades genauso gut helfen. Ehrlich gesagt war ihr die Vorstellung sogar angenehm. Das Wenige, was sie bisher von der Unterwelt gesehen hatte, war viel zu schön, um durch Aberglaube und Ammenmärchen verkannt zu werden. Und Hades war alles andere als der desinteressierte Gott, als den Demeter ihn beschrieben hatte. Lina schielte zu ihm hinüber. Er war ein geschmeidiger Panther, explosiv und faszinierend. Was Hades brauchte, war eine gute Marketingkampagne, die ihm ein neues Image verschaffte. Lina konnte sich ein heimliches Grinsen nicht verkneifen. Sie war immer schon hervorragend im Marketing gewesen.
Langsam spazierten die drei über den großen Innenhof. Schon bald war Lina völlig gebannt von der Umgebung. Wunderschöne Statuen von nackten Gottheiten waren so gekonnt aus cremefarbenem Marmor geschlagen, dass sie wie lebendig wirkten. Lina hoffte, ihr Kurzzeitjob würde sie nicht so stark beschäftigen, dass sie keine Zeit hätte, den Park zu genießen. Er wäre der perfekte Ort zum Herumsitzen, Weintrinken und Tagträumen.
»Ich könnte mir vorstellen, dass dir nach der Reise eine Erfrischung gelegen käme«, sagte Hades plötzlich. »Ich würde mich freuen, wenn du mir Gesellschaft leistest.« Als erwarte er eine Absage von Lina und wolle ihr eine glaubhafte Ausrede an die Hand geben, fügte er schnell hinzu: »Es sei denn, du bist zu erschöpft, was natürlich verständlich wäre.«
»Ich bin überhaupt nicht müde, und ich habe sehr großen Hunger.« Lina lächelte den dunklen Gott an, damit er sich entspannte.
»Nun gut«, sagte er, und sein Gesichtsausdruck wurde etwas lockerer. »Ich werde dich zu deinem Zimmer geleiten lassen.« Er nickte Eurydike zu. »Und dich zu deinem, mein Kind, das, so sei versichert, unweit von dem deiner Göttin liegen wird.«
Der kleine Geist grinste glücklich, und Lina spürte eine Woge der Wärme für Hades und sein Verständnis, das er Eurydike entgegenbrachte. Beim Weg durch den Innenhof versuchte sie sich zu erinnern: Was wusste sie über Hades? Sie konnte sich nicht erinnern, viel über ihn gelesen zu haben. Er war der Herrscher der Hölle, der die junge Persephone entführt hatte. Was sonst noch? Persephones Wissensspeicher machte sich flüsternd bemerkbar:
Hades … düster, zurückgezogen, ernst … der finstere Gott bereichert sich an den Tränen Sterblicher.
Lina versuchte, nicht die Stirn zu runzeln, als sie ihrer inneren Stimme lauschte. Auf keinen Fall benahm er sich so, als würden Eurydikes Tränen ihn auf irgendeine Weise bereichern. Tatsächlich schien es, als träfe genau das Gegenteil zu. Verwirrt drängte Lina Persephones Stimme aus ihren Gedanken und lächelte Eurydike zerstreut an, die fröhlich die Schönheit der weißen Blumen rühmte.
Irgendwann waren sie am Ende des weitläufigen Innenhofs an zwei großen Glastüren angelangt, die aufschwangen, ohne dass Hades sie berührt hätte.
Zauberei, dachte Lina und versuchte, nicht überrascht zu sein. Sie durfte sich nicht erlauben, über diese Magie zu staunen. Für die anderen war sie eine Göttin …
für die anderen bin ich eine Göttin … für die anderen bin ich eine Göttin …
Während sie sich diesen Satz im Geiste vorsprach, trat Hades beiseite und machte ihr ein Zeichen, durch die Glastüren in den Palast zu gehen.
Sie betrat einen Traum.
Der Boden bestand aus demselben glatten, fugenlosen Schwarz, aus dem auch die Wege und die Außenmauern des Palasts gearbeitet waren, doch die Innenwände waren aus einem anderen Material: aus Ebenholz, durchzogen von blassesten weißen Adern; Tag und Nacht harmonisch vereint. In silbernen Wandleuchtern steckten
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