Göttin des Frühlings
Konzentration raubte. Sie fühlte die Augen des Gottes auf sich und sah ihn an.
»Der Helm ist wunderschön. So einen habe ich noch nie gesehen«, sagte sie.
»Danke. Er ist das Geschenk eines Zyklopen«, erklärte der Gott und lächelte sichtlich erfreut über das Kompliment.
Zyklopen? Waren das nicht diese Typen, die nur ein Auge hatten?
Cyclops, ein einäugiges Ungeheuer, das Zeus Donner und Blitz, Poseidon seinen Dreizack und Hades einen Helm schenkte …
Schon gut!
Lina unterbrach ihren inneren Monolog. Wer auch immer dieser Kerl war, sie wollte sich bestimmt nicht mit Hades über mythologische Wesen streiten. Deshalb tat sie das, was jede besonnene, reife Frau tun würde – sie wechselte das Thema. Und zwar schnell.
»Dein Thron ist auch sehr ungewöhnlich. Ich kenne den Stein nicht, aus dem er gearbeitet ist.«
»Das ist weißer Chalzedon«, erklärte er.
»Hat der auch besondere Eigenschaften?«, wollte Lina wissen.
»Ja, er vertreibt Angst, Hysterie, Depressionen und Traurigkeit. Ich hielt ihn für eine gute Wahl in diesem speziellen Raum.«
»Da kann ich dir nur zustimmen.«
Hades drehte sich wieder zu Lina um und beugte sich vor, so dass sich ihre Gesichter abermals sehr nah waren. »Kennst du den bunten Stein in diesem Raum?«
»Das ist Amethyst.«
»Er hat dieselbe Farbe wie deine Augen, Persephone«, sagte Eurydike, stolz über ihre Entdeckung.
»Ja, das habe ich auch schon bemerkt«, sagte Hades langsam, ohne den Blick von Lina abzuwenden.
Seine Stimme war tiefer geworden, eine akustische Liebkosung, und Lina spürte, wie ihr Magen zu flattern begann.
»Die Toten bitten darum, mit ihrem Gott sprechen zu dürfen!« Iapis’ Stimme trug die Worte mit förmlicher Autorität durch den Thronsaal.
Nur widerwillig wandte Hades seine Aufmerksamkeit von Lina ab, und sie schüttelte sich innerlich. Wie um alles in der Welt sollte sie ans Geschäftliche denken, wenn Hades neben ihr den Sexgott gab? Fast wünschte sie sich, er würde wieder zu dem unzugänglichen Mann aus Stein. Aber nur fast.
Sie konnte nur hoffen, dass Persephone in Tulsa mehr Glück hatte, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren.
»Mögen die Toten eintreten!«, befahl Hades mit seiner kräftigen Stimme.
Lina sah, dass Iapis den zweizackigen Speer hielt, den Hades am Vortag getragen hatte. Mit einem Geräusch wie Donnerhall schlug er damit auf den Marmorboden. Einer der Schatten, die vor dem geschwungenen Torbogen standen, erschauderte und trat in den Thronsaal. Lina sah gespannt zu, wie der Geist sich dem Podium näherte. Es war eine Frau mittleren Alters. Lina konnte keine Verletzungen an ihrer halb durchsichtigen Gestalt ausmachen. Sie war ziemlich attraktiv. Ihr Haar war in kunstvollen Zöpfen aufgetürmt, so dass es aussah, als trage sie eine Krone. Sie war in mehrere Lagen drapierten Stoffs gehüllt, der sie flüsternd umspielte, als sie am Fuße des Podiums stehenblieb. Sie machte einen tiefen Knicks und stand nicht eher auf, als dass Hades sie ansprach.
»Stheneboia, du magst dich erheben.«
Die Frau richtete sich auf, doch kaum hatte sie Persephone erkannt, riss sie die Augen auf und sank zu dem nächsten tiefen Knicks hinunter.
»Ich fühle mich geehrt durch die Anwesenheit von Demeters Tochter.«
Die gehauchte Stimme des Geistes erinnerte Lina an eine schlechte Marilyn-Monroe-Kopie. »Erhebe dich bitte«, beeilte sie sich zu sagen und fragte sich, warum sie spontan eine Abneigung gegen diesen Geist verspürte.
Wieder stand Stheneboia auf. Nachdem sie der Göttin den gebührenden Respekt erwiesen hatte, ignorierte sie Persephone und richtete ihre großen, mit Kohlestift umrandeten Augen auf Hades.
»Ich bin gekommen, großer Gott, um die Erlaubnis zu erbitten, dass ich aus dem Fluss Lethe trinken und in die Welt der Sterblichen zurückkehren darf.«
Hades betrachtete sie eindringlich. Als er sprach, stellte Lina fest, dass seine Stimme die Selbstsicherheit und Autorität eines Gottes ausstrahlte, und zwar so sehr, dass die feinen Härchen auf ihren Armen kribbelten und sich aufstellten.
»Das ist eine ungewöhnliche Bitte, die du mir da stellst, Stheneboia. Du weißt bestimmt, dass den Geistern von Selbstmördern nur selten erlaubt wird, von Lethe zu trinken.«
Lina erschrak. Die Frau hatte sich umgebracht? Warum?
Demütig senkte Stheneboia den Blick. »Und du weißt, großer Gott, dass ich nicht wirklich sterben wollte.«
Die Anrede »großer Gott« klang bei ihr wie eine Liebkosung. Lina biss die
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