Göttin des Frühlings
da Lina nun nicht mehr in seiner Nähe war und Zeit hatte, über den Abend nachzudenken, bedauerte sie ihren kleinen Wutausbruch. Hades war kein geschiedener Mann mittleren Alters mit verschwitzten Händen, der sie zum Essen einlud, damit er ihr von seinen Exfrauen vorjammern und sie zum Nachtisch betatschen konnte. Er war ein mächtiger Unsterblicher, ein Wesen, über das sie nur wenig wusste.
Warum genau war sie eigentlich so sauer auf ihn gewesen? Gut, er war beim Essen launisch und unberechenbar, aber andererseits auch interessant und sexy. Iapis’ Erklärung für das mangelhafte Benehmen seines Herrn leuchtete ihr ein. Er war nicht an Gäste gewöhnt. Offensichtlich waren seine gesellschaftlichen Fähigkeiten ein wenig eingerostet. Wie höflich genau musste er als unsterbliches Wesen eigentlich sein? Sie dachte an Demeters gebieterische Art und Eirenes Unhöflichkeit. Genau genommen lag Hades’ temperamentvolles Verhalten damit auf einer Linie.
Eurydike hörte auf, ihr das Haar zu bürsten, doch offensichtlich spürte Linas Anspannung, denn sie begann mit sanften, kühlen Händen vorsichtig, ihre Schultern zu massieren. Lina seufzte zufrieden, schloss die Augen und genoss die Berührungen des Mädchens, die ihre Nerven beruhigten und ihr einen klaren Kopf machten.
Eigentlich hatte sie keinen Grund gehabt, Hades so anzufahren. Er hatte sie nicht zur Zielscheibe seines Scherzes gemacht, er hatte sie lediglich wie die naive junge Göttin behandelt, als die sie sich hier ausgab. Ihr alberner Wutausbruch hatte nur wenig dazu beigetragen, seine Meinung von ihr zu ändern. Wenn sie wollte, dass er sie wie eine reife Erwachsene behandelte, sollte sie auch versuchen, sich wie eine solche zu benehmen.
Merda!
Sie war noch keinen Tag da und hatte es bereits verbockt. Hatte sie völlig den Verstand verloren? Schließlich war sie in der Unterwelt, um eine Aufgabe zu erledigen. Zumindest hatte sie noch genug Verstand gehabt, Ja zu sagen, als Iapis ihr die Einladung überbracht hatte, am nächsten Morgen zusammen mit Hades die Gesuche der Toten anzuhören. Sie musste wieder einen klaren Kopf bekommen und sich das Ganze als Teil der Aufgabe vorstellen, die zu erledigen Demeter sie in die Unterwelt geschickt hatte. Sie musste sich den Toten zeigen, damit ihre Gegenwart ihnen Trost brachte. Das hatte nichts damit zu tun, dass sie mehr Zeit mit Hades verbringen wollte, weil der düstere Gott sie faszinierte, was wirklich albern war … lächerlich … dumm.
Und doch war es die Wahrheit.
Sie wusste es. Während Eurydike mit ihrer Massage Linas angespannte Nerven beruhigte, konnte sie es sich selbst eingestehen. Hades fesselte sie, genau wie alles andere in der Unterwelt. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, doch das lag wahrscheinlich daran, dass sie am falschen Ort und alles in dieser unglaublichen Welt so neu und einzigartig war. Wie sollte sie auf den sie umgebenden Zauber nicht mit gespannter Wissbegier reagieren? Und zu diesem Zauber gehörte natürlich auch der zuständige Gott. Es war völlig normal, dass sie sich bemüßigt fühlte, mehr über ihn herauszufinden.
Zumindest redete sie sich das ein.
»Persephone, du schläfst fast schon«, sagte Eurydike. Sie zupfte am Arm der Göttin, und zog sie zum Himmelbett hinüber. »Leg dich hin. Ich singe dir etwas vor. So wie meine Mutter mir früher vorgesungen hat.«
Zu müde, um zu protestieren, ließ sich Lina von dem jungen Geist zum sinnlichen, daunengefüllten Bett geleiten. Eurydike kuschelte sich an sie heran. Sie strich der Göttin übers Haar und begann ein sanftes Schlaflied über ein Kind zu singen, das auf dem Rücken des Windes ins bunte Land der Träume flog.
»Eurydike«, sagte Lina schläfrig.
»Ja, meine Göttin?«
»Danke, dass du dich um mich kümmerst.«
»Sehr gerne, Persephone«, sagte Eurydike.
Sanft senkte sich der Schlaf auf Lina und brachte ihr Träume, in denen sie auf dem Rücken des Windes ritt und Batmans Schatten jagte.
12
Der Große Saal trug seinen Namen zu Recht. Lina hatte gedacht, der Speisesaal und ihr Schlafgemach seien extravagant, doch sie verblassten im Vergleich zu Hades’ Thronsaal. Der Raum war gigantisch, selbst im Verhältnis zu dem gewaltigen Palast. Er wurde von drei Farben beherrscht: schwarz, weiß und violett. Boden, Wände und Deckengewölbe bestanden aus demselben makellosen Schwarz wie die Außenwände, ebenso das erhöhte Podium, auf dem ein massiver thronähnlicher Stuhl stand, aus einem einzigen Stück
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