Göttin des Frühlings
ätherisch weißen Steins gehauen, der Lina unbekannt war. Neben dem Thron befand sich ein hoher, schmaler Tisch aus demselben milchigweißen Material. Darauf ruhte ein silberner Helm, der Lina seltsam bekannt vorkam. Sie betrachtete ihn, dann fiel ihr ein, wo sie ihn schon gesehen hatte. Derselbe Helm war auf der Flagge abgebildet, die über dem Palast wehte und die Uniformen der Stallburschen schmückte. In überirdischer Schönheit blitzte und funkelte er im Kerzenlicht. Lina riss ihren Blick von dem Helm los und ließ die andere Farbe im Raum auf sich wirken: Violett. Sie fand sich in Dutzenden von Lüstern und Wandleuchtern, alle aus demselben Stein gearbeitet: Amethyst.
Eingeschüchtert von der hehren Erhabenheit des Thronsaals, blieb sie zögernd auf der Schwelle stehen. Plötzlich fühlte sie sich klein, bedeutungslos und überaus sterblich.
»Stimmt etwas nicht, Persephone?«, fragte Eurydike.
Lina holte tief Luft. Sie war eine Göttin, rief sie sich in Erinnerung. Es war zwar nur vorübergehend, aber trotzdem war sie eine Göttin.
»Nein, mein Schatz, alles ist gut. Ich bewundere nur den Saal.« Sie lächelte den kleinen Geist an.
»Ah, da kommt Hades«, sagte Iapis.
Der Gott betrat den Thronsaal durch eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Seine vergoldeten Sandalen hallten über den glatten Marmorboden, und bei jedem seiner Schritte schlug Linas Herz schneller. Er trug wieder den Umhang, der seine Figur umspielte und seine lange, kräftige Gestalt unterstrich. Sein togaähnliches Gewand wirkte auf den ersten Blick schwarz, doch als das Licht der Kerzen darauf fiel, glänzte der Stoff wie ein Rabenflügel, changierend zwischen Violett und Königsblau. Hades trug das Haar offen, es fiel ihm wie ein schwerer schwarzer Vorhang bis auf die Schultern. Sein kantiges Kinn wirkte entschlossen, sein Gesicht war düster, sein Ausdruck ernst. Er strahlte pure Männlichkeit aus.
Linas Magen kribbelte. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht nervös an einer Haarsträhne zu drehen.
Mit einem Schritt nahm Hades die Stufen zum Podium. Er wollte sich gerade hinsetzen, als er die drei Personen bemerkte, die vor der Tür auf der anderen Seite standen. Sein Blick traf den von Lina.
»Persephone«, sagte er und neigte leicht den Kopf, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. »Ich fühle mich geehrt, den Frühling in meinem Thronsaal begrüßen zu dürfen.«
Lina schluckte und ärgerte sich, dass ihr Mund so trocken war.
»Danke, Hades«, sagte sie, froh über ihre kräftige, klare Stimme. »Ich weiß deine Einladung zu schätzen.«
»Komm bitte zu mir«, sagte Hades. Er wandte sich an den Daimon und löste so den Bann, der ihrer beiden Blicke miteinander verband. »Iapis, lass einen Stuhl für die Göttin bringen.«
»Aber sicher, mein Herr«, rief Iapis über die Schulter, und innerhalb weniger Momente trugen geisterhafte Diener einen kunstvoll gearbeiteten silbernen Stuhl herbei, den sie zu Hades aufs Podium stellten.
Lina trat vor. Sie spürte die Augen des Gottes auf sich und hob stolz das Kinn. Eurydike hatte ihr beim Ankleiden geholfen, und Lina freute sich besonders, dass die von ihr gewählte violette Seide die Farbe der Amethyst-Lüster über ihrem Kopf wie auch die Farbe ihrer Augen aufnahm. Doch sie wusste, dass der herrliche Stoff, der ihren Körper umhüllte, nur Nebensache war. Als sie sich am Morgen angezogen hatte, war sie aufs Neue erschüttert gewesen von Persephones unsterblicher Schönheit. Lina wusste, dass sie den Saal mit all der Anmut einer Göttin durchquerte, egal was für ein Chaos in ihrem Kopf herrschte.
Als sie das Podium erreichte, zögerte Hades, dann ging er ihr mit einem Seitenblick auf Iapis entgegen. Sie erklomm die erste Stufe, und er bot ihr seine Hand, genau wie er es am Vortag in seinem Streitwagen getan hatte. Als Lina ihre Hand in seine legte, führte der dunkle Gott sie langsam an seine Lippen.
»Ich hoffe, du hast gut geschlafen, Göttin.«
»Ja, danke, das habe ich«, erwiderte Lina und versuchte zu verdrängen, wie ihre Haut bei seiner Berührung kribbelte.
»Das freut mich zu hören«, sagte Hades.
Lina lächelte unsicher und nickte. Hades war heute anders – mächtiger und selbstbewusster. Und es war noch etwas Anderes an ihm, eine Intensität, die sich auf die Göttin zu richten schien. In seiner Nähe spürte sie die Macht seiner Gegenwart, was sie ein wenig einschüchternd und sehr, sehr sexy fand.
Zugegebenermaßen war es lange her, dass sie in
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