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Göttin des Frühlings

Göttin des Frühlings

Titel: Göttin des Frühlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P.C. Cast
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mussten den Partner kontrollieren, peinigen, unterjochen. Lina spürte, wie die Wut in ihr wuchs und ihren Worten so viel Kraft verlieh, dass sie Orpheus entgegenschleuderte: »Verzieh dich!«
    Der Befehl erfasste den Sänger, riss ihn von den Füßen und schleuderte ihn kopfüber vom Tunneleingang zurück, trug ihn immer weiter fort, bis er aus dem Blickfeld verschwand.
    Offenbar hatte Lina eine neue Fähigkeit der Göttin Persephone entdeckt. Sie lächelte grimmig. Man sollte eine Göttin nicht vergrätzen.
    Ohne zu wissen, dass sie vom unsichtbaren Gott der Unterwelt beschattet wurde, legte Lina einen Arm um Eurydike, die leise vor sich hin schluchzte. Die Göttin stützte das Mädchen mit seinem geringen Gewicht, wandte der Welt der Lebenden den Rücken zu und führte Eurydike durch die einladende Dunkelheit des Tunnels auf die Lichtung inmitten der weißen Bäume. In Sicherheit unter dem schützenden Blätterdach brach Eurydike auf dem weichen dunklen Boden zusammen. Sie hatte aufgehört zu weinen, keuchte aber, als sei sie gerade einen Marathon gelaufen.
    »Du b...b...bist mir n...n...nachgegangen!« Sie hatte Mühe zu sprechen, solange sie ihren Atem nicht unter Kontrolle hatte.
    Lina setzte sich neben die Kleine und umarmte sie innig. »Aber sicher. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Es tut mir leid, dass ich dich gehen ließ – es war seine Musik. Zuerst konnte ich nicht klar denken, doch sobald Orpheus mit dir verschwunden war, merkte ich, dass du ihn nicht begleiten wolltest.«
    »N...nein!« Eurydike erschauderte, fühlte sich aber durch die Umarmung ihrer Göttin gestärkt. »Ich wollte nicht mit ihm gehen.«
    »Diese falsche Entscheidung, von der du mal gesprochen hast, das war nicht der Pfad, der dich in den Tod führte, oder?«, fragte Lina.
    »Nein!«, antwortete Eurydike. Ihre Stimme wurde immer kräftiger. »Ich meinte ihn! Er war die falsche Entscheidung, die ich getroffen habe. Ich habe mich so sehr in ihm geirrt! Eines Tages lernte ich ihn kennen, und am nächsten Tag versprach ich mich ihm bereits. Ich war geblendet von der Magie seiner Musik. Ich habe nicht in sein Herz geblickt.« Sie zitterte, aber riss sich zusammen. Es musste jetzt heraus. Zu lange hatte sie geschwiegen. »Wenn ich in sein Herz gesehen hätte, wäre mir aufgefallen, dass es voller Grausamkeit ist. Das verstand ich erst, als es zu spät war. Es begann mit Kleinigkeiten. Ihm gefiel nicht, wie ich mein Haar trug. Er bat mich, meine Frisur zu ändern. Ich gehorchte.« Eurydikes Worte sprudelten immer schneller aus ihr heraus. »Dann ging es um meine Kleidung. Um meine Freunde. Ich versuchte, es meiner Familie zu sagen, doch sie hörten nur seine Musik. Nur zu gern ließen sie mich mit ihm gehen, hielten mein Zögern für mädchenhafte Zurückhaltung. Nach unserer Hochzeit erlaubte er mir nicht einmal mehr, meine Familie zu besuchen. Er konnte es nicht ertragen, wenn ich auch nur kurze Zeit nicht an seiner Seite war. Er wollte mich besitzen. Wenn ich versuchte, ihn zu verlassen, selbst wenn es nur um einen Augenblick des Alleinseins ging, schlug er mich. Immer wieder schlug er mich. Das Leben mit ihm war ein Gefängnis.« Eurydikes Augen glänzten, doch sie weinte nicht mehr. »Als uns der Nebel trennte, lief ich ihm einfach davon. Von dem Nest mit den Nattern ahnte ich nichts. Doch ich freute mich über den Biss. Ich war dankbar für die Befreiung.«
    »Du bist so mutig.« Lina berührte die feuchte Wange des Mädchens.
    »Meinst du das ernst, Persephone?«
    »Ich weiß es. Darauf hast du das Wort einer Göttin.«
    Eurydikes Lächeln blitzte auf. »Dann muss ich es wohl glauben.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde nachdenklicher.
    »Was ist, Schätzchen?«, fragte Lina.
    Das Mädchen starrte auf den Pfad, der zurück in die Unterwelt führte. »Ich muss los. Ich gehöre nicht so nah an die Welt der Lebenden. Es fühlt sich nicht richtig an.«
    Verständnisvoll nickte Lina. Sie konnte die Not in den Augen des kleinen Geistes sehen. Diesmal waren Eurydikes Schritte zuversichtlich, als sie durch den Wald aus milchfarbenen Bäumen eilte. Lina folgte ihr langsamer. Als sie die Bäume hinter sich ließen, sah sich Eurydike über die Schulter nach Lina um, die stehengeblieben war.
    »Kommst du nicht mit mir zurück?«, fragte sie ängstlich.
    »Doch, doch, keine Sorge. Ich komme …« – Lina zögerte –, »aber würde es dich stören, wenn du vorgehst?« Sie wies hinter sich. »Ich muss erst noch etwas

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