Göttin des Frühlings
großen Schinkensnack braten lassen müssen.
Der Weg machte erneut eine abrupte Biegung. Am Ufer eines Sees kam Lina stolpernd zum Stehen und ging ein paar Schritte zurück, weil das Wasser ihre Füße fast verschlucken wollte. Es war zäh und schwarz, beinahe ölig. Sie blickte nach rechts und links. Dunkelheit umgab den Teich, so dass er sich endlos in alle Richtungen zu erstrecken schien.
Sie erschauderte.
Sie war eine Göttin. Sorgsam überlegte sie sich jedes Wort.
Beleuchte die Nischen,
flüsterte es in ihrem Kopf.
Mit einem Seufzer der Erleichterung hob sie die Hand und befahl: »Ich brauche Licht!«
Die leuchtende Kugel ploppte aus ihrer Handfläche und schwebte erwartungsvoll über ihr.
»Was ist dein Wunsch, Göttin?«, ertönte eine Stimme.
Lina fuhr zusammen und gab einen quietschenden Laut von sich, das sicherlich nicht göttlich war. In der Dunkelheit neben ihr erschien ein skelettartiger Mann. Er trug ein graues Gewand, das über den Boden schleifte. In der Hand hielt er einen langen hakenförmigen Stab, der Lina an die langen Stöcke der Gondolieri erinnerte, mit denen sie ihre Boote über den Canale Grande schoben. Doch da endete auch schon die Ähnlichkeit zu allem Irdischen oder Romantischen. Dieser Mann war ein grimmiges Wesen, dessen große, bernsteingelbe Augen seltsam glühten. Lina musste nicht auf den Erfahrungsschatz in ihrem Kopf zurückgreifen, um seinen Namen zu kennen. Es konnte niemand anders sein als Charon, der Fährmann aus dem Hades.
»Ich möchte Orpheus und Eurydike folgen. Hast du sie über den See gesetzt?«
»Ja, Göttin.«
»Dann möchte ich auch fahren.«
»Wie du befiehlst, Göttin.« Der Alte machte eine ausholende Geste, und ein Kahn erschien am Ufer vor ihnen.
Lina zwang sich, nicht an sinkende Boote, unergründliche Seen und die gruseligen Dinge zu denken, die direkt unter der Oberfläche lauern mochten, sondern stieg in den kleinen Nachen und nahm in der Mitte Platz. Charon ging ebenfalls an Bord und beugte sich vor, um sich mit dem Stock vom Ufer abzudrücken, doch mitten in der Bewegung hielt er inne und stand ganz still, als lausche er auf geflüsterte Worte. Kaum merklich nickte er, verharrte noch kurz, dann stieß er sich vom Ufer ab.
»Die Überfahrt dauert nicht lange, Göttin.«
Lina nickte und versuchte erfolglos, sich zu entspannen. Sie richtete den Blick auf das ferne Ufer, versuchte, ihn nicht hinunter aufs Wasser zu senken. Ungewollt erinnerte sie sich an eine Szene aus
Der Herr der Ringe
, in der Frodo und Sam die Toten Sümpfe durchqueren. Lina erschauderte und bekam Angst, dass sie die Gesichter der Toten erblicken würde, wenn sie ins Wasser hinabschaute. Ihr einziger Trost war die Lichtkugel, die treu über ihrer Schulter schwebte.
Sie wirkte verängstigt, so verängstigt, dass er fast die Hadeskappe vom Kopf genommen und sich ihr zu erkennen gegeben hätte. Dann erinnerte er sich an ihre Reaktion auf seinen Vorwurf, jung und beschützt aufgewachsen zu sein. Wahrscheinlich würde sie seine Einmischung und den Trick mit der Kappe nicht lustig finden. Persephone wäre nicht erbaut davon, dass er sich verbarg und sie verfolgte. Doch sein Herz flüsterte ihm zu, er solle sie in die Arme nehmen und vor ihren Ängsten beschützen. Wie immer hörte Hades auf seinen Verstand, doch zum ersten Mal in seinem Leben hätte er lieber seinem Gefühl nachgegeben.
Charon spürte die Gegenwart des Gottes. Er merkte, als Hades ins Boot stieg. Er wusste auch, dass der Gott seine Gegenwart vor der Göttin verbergen wollte. Der Fährmann war mehr als diskret. Und so stand Hades am anderen Ende des Kahns, den Blick unverwandt auf Persephone gerichtet. Er sah, wie sie sich so fest an ihren Sitz klammerte, dass ihre zarten Fingerknöchel weiß wurden. Den Rücken hatte sie durchgedrückt, als wolle sie ihrer Furcht trotzen. Ihre kleine Leuchtkugel erhellte den Raum um sie herum, so dass sie in einem Lichthof zu schweben schien, der fast so strahlte wie ihre Schönheit.
Eine Welle traf das Boot, es schaukelte gefährlich. Persephones Körper bebte.
Vorsichtig!
Stumm richtete Hades seinen Zorn auf Charon. Der Fährmann neigte als Antwort den Kopf und erschauderte vor der Macht der göttlichen Raserei. Die restliche Überfahrt verlief schnell und glatt, während der Herr der Unterwelt aufmerksam Wache stand.
»Folge dem Pfad, der dort verläuft, Göttin.« Charon wies nach vorn in die Dunkelheit. Lina stieg aus dem Nachen ans Ufer. »Die Pforte
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