Göttin des Frühlings
dass wir dir nicht werden entkommen können.«
Hades schluckte, plötzlich war seine Kehle ganz eng. Wenn er in ihrer Nähe war, fühlte er sich mächtig und hilflos, war ihm heiß und kalt, alles zugleich. Wahrscheinlich wurde er gerade wahnsinnig, doch es war ihm egal. Er näherte sich ihr, so dass sich ihre Körper seitlich berührten, und fing ihren neckenden Blick auf. »Nein, du wirst mir nicht entkommen können.«
Lina hatte das Gefühl, in seinen Augen zu versinken. Ihm entkommen? Von wegen. Sie wäre ihm am liebsten unter die Haut gekrochen.
Orion stieß sie von hinten mit dem Kopf an und schnaubte. Lina lachte, und die Anspannung zwischen ihnen verflüchtigte sich.
»Ist ja gut, du ungeduldiger Kerl!«
»Das Tier ist nicht ungeduldig. Es ist eifersüchtig«, sagte Hades und warf dem Hengst einen düsteren Blick zu, den Orion demonstrativ ignorierte und stattdessen unschuldig an der Schulter der Göttin knabberte.
»Eifersüchtig?« Lina tat überrascht. »Nur weil ich Dorado gestreichelt habe? Das ist aber sehr dumm von dir«, flötete sie dem Pferd zu.
»Du hast ja gar keine Vorstellung, wie dumm das ist«, murmelte Hades, aber er sprach nicht von dem Pferd. »Komm!« Er fasste die Göttin am Ellenbogen, führte sie auf die linke Seite des Tieres und half ihr aufsitzen. »Die elysischen Gefilde erwarten den Besuch der Frühlingsgöttin.«
Seite an Seite ritten sie über den schwarzen Marmorweg. Das regelmäßige Klappern der Pferdehufe vermischte sich mit dem melodiösen Gesang der Vögel, die sich in den Zweigen der eindrucksvollen Zypressen entlang dem Weg unterhielten. Der Duft von Narzissen würzte die Luft. Immer wieder kamen sie an Geistern vorbei, manche in Gruppen, dann an einer einsam wandelnden Seele. Doch alle reagierten auf dieselbe Weise. Zuerst gaben sie den Weg frei, machten den Streitrössern Platz. Dann erkannten sie, wer auf diesen Pferden saß. Feierlich verbeugten sich die Toten vor ihrem dunklen Gott und starrten Persephone mit großen Augen an. Die Männer lächelten ihr zu und verneigten sich vor ihr, manche riefen ihr sogar einen Gruß zu, doch es war die Reaktion der Frauen, die Lina am meisten bewegte. Wenn sie erkannten, dass die Göttin des Frühlings vor ihnen war, leuchtete ihr Gesicht vor Freude auf. Viele riefen sie beim Namen und baten um ihren Segen, den Lina bereitwillig spendete. Manche wagten sogar, sich Orion zu nähern, um den Saum ihres Gewands zu berühren.
Lina konnte nicht glauben, was für einen Unterschied ihre Gegenwart für die Geister zu machen schien. Sie musste zugeben, dass Demeter recht gehabt hatte – aus welchem Grund auch immer musste den Geistern der Toten gewiss gemacht werden, dass sich eine Göttin um sie sorgte. Es war eine unglaubliche Verantwortung, doch sie gab Lina das Gefühl, gebraucht und geschätzt zu werden. Wenn sie Zufriedenheit und Hoffnung verbreiten konnte, nur weil sie sich in der Unterwelt zeigte, dann war Lina glücklich, da zu sein.
Zuerst machte sie sich Sorgen, dass Hades verärgert sein oder sich sogar bedroht fühlen könnte von all der Aufmerksamkeit, die sie auf sich zog. Aber obwohl er nur wenig sagte, sprach sein zufriedenes, entspanntes Gesicht Bände. Der dunkle Gott war offensichtlich froh, dass die Toten so freudig auf sie reagierten.
Schließlich stieg die Straße stark an. Sie erklommen eine Anhöhe, und Lina ließ Orion anhalten.
»Es ist, als wäre das Ganze zweigeteilt und dann gemalt – die eine Seite dunkel, die andere hell.« Ungläubig schüttelte sie den Kopf, auch wenn sie wusste, dass ihre Augen sie nicht trogen. Der Weg, auf dem sie sich befanden, erstreckte sich vor ihnen als Grenzlinie zu einer völlig anderen Art von Landschaft. So etwas Bizarres hatte Lina noch nie gesehen.
»In unterschiedlichen Farben gemalt, dunkel und hell, das ist eine zutreffende Beschreibung«, sagte Hades. Er wies nach links, wo das Land in weite Schwärze überging, umringt von einer roten Feuerschnur. »Das ist der flammende Fluss Phlegethon, die Grenze zum Tartarus, wo die Dunkelheit herrscht.« Mit der anderen Hand zeigte er in die Helligkeit rechts von ihnen. »Und dort siehst du das Elysium, wo Licht und Fröhlichkeit regieren und es nur dunkel ist, damit die Geister Gelegenheit haben, friedlich zu ruhen.«
Schnell suchte Lina den Zugang zu Persephones Gedächtnis.
Tartarus,
flüsterte die Stimme in ihrem Kopf,
die Region der Unterwelt, wo die ewige Strafe zugemessen wird. Ein Ort der
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