Göttin des Lichts
zugerichtet.« Sie machte sich auf den Weg ins Badezimmer, um einen feuchten Waschlappen zu holen, und sah über die Schulter zu ihm zurück. »Wann hast du dich denn das letzte Mal rasiert?«
Er schüttelte steif den Kopf. »Noch nie.«
Als sie mit dem Waschlappen zurückkam, fiel ihr auf einmal wieder ein, wie glatt und stoppelfrei sein Gesicht an jenem Morgen gewesen war, als sie zusammen aufgewacht waren.
»Du hast dich echt noch nie rasiert?«
Er blickte zu ihr empor. »Ich hatte das nie nötig. Mir ist nie ein Bart gewachsen.«
Sie beugte sich zu ihm herunter, inspizierte sein Gesicht und berührte behutsam seine Wange. »Es ist nicht so schlimm. Du hast dich nur ein paarmal leicht geschnitten, aber im Gesicht blutet es immer gleich wie wild.«
»Das wusste ich nicht«, sagte er und wurde noch blasser.
Pamela richtete sich wieder auf. »Hast du auch noch nie geblutet?«
»Nein«, antwortete er, verzog das Gesicht und verbesserte sich, »ich meine, ja. Ich habe noch nie geblutet.«
Pamela machte den Mund auf und wieder zu. Er war ein Gott. Götter starben nicht, also war es nur logisch, dass sie auch nicht bluteten. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und ehe sie eine intelligente Erwiderung formuliert hatte, klopfte es schon wieder, gefolgt von einer leisen Stimme, die ihren Namen rief.
»Warte mal einen Moment«, sagte sie zu Apollo. »Wer ist da?«, fragte sie durch die geschlossene Tür.
»Ich!«, kam von draußen ein Wimmern.
»Artemis?«, fragte Pamela und öffnete die Tür.
Mit ihrer kurzen Tunika bekleidet, stürzte die Göttin ins Zimmer, anzusehen wie eine Figur aus einer antiken griechischen Tragödie, eine Hand theatralisch vor sich ausgestreckt, die andere an den Hals gepresst.
»Pamela, irgendwas stimmt nicht mit …« Als sie ihren Bruder mit seinem blutigen Gesicht entdeckte, unterbrach sie sich, und ihre Hand flog vom Hals an den Mund.
Pamela knallte die Tür zu und packte die Göttin am Ellbogen.
»Bitte nicht schreien!«, sagte sie langsam und sehr deutlich.
»Oh! Oh!« Artemis schwankte, und Pamela führte sie zum Bett, wo die Göttin zusammenbrach und ihren Bruder weiter aus blicklosen Augen anstarrte. »Wird er sterben?«, fragte sie.
»Ach du liebe Zeit, natürlich nicht. Er hat sich bloß beim Rasieren geschnitten.«
Pamela rieb sich die rechte Schläfe, hinter der sich erste Anzeichen für ein unangenehmes Kopfweh entwickelten.
»Apollo?«, fragte Artemis mit zittriger Stimme.
»Ich bin nicht so gut mit der …« Er machte eine Geste, als wollte er sich rasieren.
»Rasierklinge«, ergänzte Pamela. »Nein, du bist nicht gut mit der Rasierklinge.« Sie ging wieder zu ihm. »Das brennt jetzt vielleicht ein bisschen«, warnte sie und betupfte die Schnitte vorsichtig mit dem Waschlappen. Apollo rührte sich nicht, schnappte aber hörbar nach Luft. Voll Entsetzen beobachtete seine Schwester die Szene.
»Er blutet!«, rief sie.
»Ja, das passiert, wenn man sich mit einer Rasierklinge schneidet. Man blutet.« Pamela verdrehte die Augen und wandte sich dann wieder Apollo zu. »Okay, jetzt musst du ein Papiertaschentuch nehmen und kleine Stückchen davon auf die Schnitte drücken. Dann gerinnt das Blut, und du bist im Nu wieder so gut wie neu.«
»Papiertaschentuch?«, wiederholte Apollo fragend.
»Das Blut gerinnt?«, quiekte Artemis.
»Vergiss es. Ich mach das schon.« Seufzend ging Pamela ins Badezimmer, packte ein paar Kleenex und kniete sich damit neben Apollos Stuhl. Staunend sahen die Zwillinge zu, wie Pamela kleine runde Fetzen abriss und auf die Schnitte verteilte. »So«, sagte sie dann, richtete sich auf und begutachtete ihr Werk. »Es müsste bald aufhören zu bluten. Bis du dein Hemd angezogen und dich gekämmt hast, müsstest du sie abnehmen können, ohne dass die Schnitte wieder aufgehen.«
»Aufgehen?«, wiederholte er wieder.
»Apollo, bist du nicht der Gott der Heilkunst oder was? Wie kann das denn so ein Schock für dich sein?« Pamela war am Ende mit den Nerven und wusste nicht, ob sie ihn in den Arm nehmen oder lieber schütteln wollte.
Abrupt stand der Gott auf. »Du hast vollkommen recht. Jetzt … jetzt komme ich mir ein bisschen dumm vor. Ich gehe mich anziehen und treffe euch dann gleich.« Eilig verließ er das Zimmer.
»Das war aber nicht nett«, bemerkte Artemis.
Pamela stemmte die Hand in die Hüfte und wandte sich der Göttin zu. »Oh, sieh mal einer an, wer sich da auf einmal Gedanken um Nettigkeit macht. Darf ich dich daran
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