Goettin in Gummistiefeln
Hauptgang. Wie oft habe ich sie sagen hören: Ein halbes Dinner ist auch ein Dinner. Das Problem ist, das Essen ist ihr eigentlich schnuppe. Gleiches gilt für alle Menschen, die weniger intelligent sind als sie. Womit der Großteil der Menschheit betroffen wäre.
Aber Daniel zumindest wird bleiben. Er kann keine geöffnete Weinflasche »verkommen lassen«, wie er sich ausdrückt.
»Miss Sweeting?« Der Oberkellner nähert sich mit einem Handy. »Ein Anruf für Sie. Ihre Mutter wurde bei Gericht aufgehalten.«
»Ach.« Ich versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Aber ich kann mich ja wohl kaum beschweren. Wie oft habe ich schon dasselbe getan? »Also ... wann wird sie hier sein?«
Der Oberkellner schweigt betreten. Ich glaube einen mitleidigen Ausdruck über sein Gesicht huschen zu sehen.
»Sie ist am Telefon. Ihre Sekretärin wird sie durchstellen. -Hallo?«, spricht er ins Telefon. »Ich habe hier Mrs. Tennysons Tochter.«
»Samantha?«, dringt eine forsche Stimme an mein Ohr. »Tut mir Leid, Schatz, ich kann heute Abend nicht kommen.«
»Überhaupt nicht? Nicht mal später?« Mein Lächeln versickert. »Nicht mal ... auf einen Drink?«
Ihr Gericht ist nur fünf Minuten von hier, in Lincoln‘s Inn Fields.
»Viel zu viel um die Ohren. Ich habe einen wirklich wichtigen Fall, der morgen zur Verhandlung kommt ... Nein, nicht diese Akte«, sagt sie zu jemandem in ihrem Büro. »So was kommt vor«, meint sie an mich gewandt. »Aber ich wünsche dir jedenfalls einen schönen Abend mit Daniel. Ach, und alles Gute zum Geburtstag. Ich habe dir dreihundert Pfund auf dein Konto überweisen lassen.«
»Ach ... wie nett. Vielen Dank.«
»Hast du schon was gehört, ob du Seniorpartnerin wirst?«
»Noch nicht.« Sie klopft mit ihrem Stift an den Hörer.
»Wie viel hast du in diesem Monat gearbeitet?«
»Ach ... so zweihundert Stunden etwa ...«
»Reicht das? Samantha, du willst schließlich nicht übergangen werden. Es kommen immer junge, ehrgeizige Anwälte nach. In deiner Position kann man leicht verhungern.«
»Zweihundert ist ganz schön viel«, versuche ich zu erklären. »Im Vergleich zu den anderen -«
»Du musst besser sein als die anderen!« Sie schneidet mir das Wort ab, als befände sie sich im Gerichtssaal. »Du kannst es dir nicht leisten, schlechter als exzellent zu sein. Das ist ein äußerst kritischer Zeitpunkt - doch nicht die Akte! Warte einen Moment, Samantha, bin gleich wieder da.«
»Samantha?«
Verwirrt blicke ich auf. Vor mir steht eine junge Frau in einem pastellblauen Kostüm, in der Hand einen enormen Geschenkkorb, den sie mir mit einer Verbeugung und einem strahlenden Lächeln überreicht.
»Ich bin Lorraine, Daniels persönliche Assistentin«, sagt sie mit einer Singsangstimme, die mir plötzlich bekannt vorkommt. »Er kann heute Abend leider nicht kommen, fürchte ich. Aber ich habe da etwas für Sie - und er ist hier am Telefon, um Ihnen Hallo zu sagen.«
Sie streckt mir ein kleines Handy hin. Total verwirrt halte ich es mir ans andere Ohr.
»Hallo, Samantha«, ertönt Daniels sachliche Stimme. »Pass auf, Liebes, ich schaffe es einfach nicht. Stecke mitten in einem Mega-Deal.«
Mir wird ganz anders. Keiner von beiden feiert mit mir?
»Tut mir wahnsinnig Leid, Babe«, sagt Daniel. »So was kommt vor. Aber amüsier dich gut mit Mum, okay?«
Ich muss erst mal schlucken. Ich kann doch jetzt nicht zugeben, dass sie mich auch sitzen lässt. Ich kann nicht zugeben, dass ich ganz allein hier hocke.
»Ja, gut!« Irgendwie kriege ich einen munteren Ton zustande. »Das werden wir!«
»Ich habe dir ein bisschen Geld überwiesen. Kauf dir was Schönes. Und ich habe Lorraine mit Pralinen vorbeigeschickt. Hab sie selbst ausgesucht!«, fügt er stolz hinzu.
Ich werfe einen Blick auf den Geschenkkorb, den Lorraine mir bereitwillig hinhält. Es ist Seife drin, keine Pralinen.
»Wirklich nett von dir, Daniel«, stammle ich. »Herzlichen Dank.«
»Happy Birthday to you ...«
Ich drehe mich um. Ein Kellner mit Tablett kommt auf mich zu, darauf steht ein funkensprühendes Cocktailglas. Auf dem Tablett steht mit Karamell »Happy Birthday Samantha« geschrieben, daneben eine vom Chefkoch höchstpersönlich signierte Miniaturspeisekarte. Dem Kellner folgen drei weitere, die alle »Happy Birthday« schmettern.
Lorraine stimmt nach kurzem Zögern verlegen mit ein. »Happy Birthday to you ...«
Der Kellner stellt das Tablett vor mir ab, aber ich habe die Hände voller
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