Goettinnensturz
altes Holzhaus, gepflegt, mit einem großen, nicht eingezäunten Garten.
»Und jetzt?«, fragte Ellen, als Berenike am Straßenrand geparkt hatte. »Willst du reingehen und fragen, wo sich Franziska mit deinem Mann vergnügt?«
»Geh bitte, Ellen!« Ein Hieb aufs Lenkrad. »Vielleicht ist sie mit Kurt zugange. Und außerdem ist Jonas nicht mein Mann.«
Ellen hob schweigend eine Augenbraue.
»Egal«, fuhr Berenike fort. »Außerdem geht es um Kurt, der Franziska in seiner Gewalt haben könnte. Ich läute und frage nach Franziska. Basta.« Ohne abzuwarten, stieg Berenike aus. Ellen folgte ihr. »Ich wollte mir sowieso von Franziska ein Kleid machen lassen. Das hätt’ ich fast vergessen. Guter Vorwand.« Berenike räusperte sich und läutete an der grün-weißen Haustür.
*
»Meine Tochter? Die ist nicht daheim.« Eine mollige Frau in Kittelschürze und mit freundlichem Lächeln öffnete ihnen. »Am Karfreitag ist sie immer bei ihrer Großmutter.«
»Ach so …«
»Was hätten’S denn braucht?«
»Oh, ich wollte mir von ihr ein Kleid machen lassen und …«
»Sie ist bei meiner Schwiegermutter in Sankt Gilgen drüben. Das Mädl hat ihrer Oma versprochen, sie zum Kreuzweg zu begleiten, heute ist ja Karfreitag.«
»Den Falkenstein rauf, richtig?«, mischte sich Ellen ein und schnaubte, um eine ihrer schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht zu pusten.
»Genau. Die Kreuzwegprozession.«
»Könnten Sie mir die Adresse von der Großmutter geben? Es wär wirklich wichtig.« Berenike bemühte sich um einen beiläufigen Gesichtsausdruck. Gefahr! Hier herrschte Gefahr. Sie spürte es. Dachte an Jonas und unwillkürlich an jenen Sommer, in dem sie sich kennengelernt hatten. Wie sie am See gesessen waren und ihnen das Chili-Schokolade-Eis auf der Zunge zerging.
»Das Häuschen steht gleich vor der Abzweigung zum Kreuzweg.« Franziskas Mutter sah auf ihre Armbanduhr, deren ledernes Band ihr in den fleischigen Unterarm schnitt. »Aber da werden’S kein Glück haben, die Prozession beginnt gleich.«
»Danke!«, rief Berenike atemlos, rannte bereits los, zurück zu ihrem Wagen. Sah noch, wie Ellen entschuldigend die Hände hob und Berenike hinterherhetzte.
»Los, wir müssen Franziska finden. Ich kann die Gefahr direkt riechen.« Berenike konzentrierte sich auf die Straße bergab.
»Oder machst du dir um jemand anderen Sorgen?«
»Wenn ich das wüsste!« Berenike trat das Gaspedal durch. Die Straße schien sich endlos zu ziehen. Bad Aussee, Bad Ischl, Strobl. Den See entlang. Sankt Gilgen, endlich. »Weißt du, Ellen, da stinkt mehr als nur ein bisschen was zum Himmel. Kurt sagt seine Reise ab, Franziska ist bei ihrer Großmutter … Jonas verschwunden … Was soll man glauben?«
Ellen nickte. »Dafür, dass er nicht dein Mann ist, redest du ganz schön viel von ihm.«
»Geh, Ellen! Ich mach mir halt Sorgen. Das würde doch jede, oder?«
»Natürlich, Berenike.«
Endlich waren sie am Ortsrand von Sankt Gilgen angekommen. Berenike parkte, warf die Tür zu, lief los. Glocken läuteten. Am Himmel zogen sich schwarze Wolken zusammen.
»Fürberg 113a, das muss es sein.« Das kleine Häuschen duckte sich an den Waldrand, fast nicht zu sehen hinter all den verwilderten Büschen und einem alten, noch intakten Holzzaun. Das Tor war mit einer glänzenden Kette versperrt. Eine Glocke gab es nicht. Berenike rief »Hallo!«, mehrmals. Nichts regte sich.
»Sind schon alle unterwegs, schau.« Ellen zeigte auf den Weg. Eine Prozession näherte sich, kirchlicher Gesang erklang vielstimmig. »Wahrscheinlich ist Franziska mit der alten Großmutter längst losgegangen.«
»Mag sein.« Berenikes Blick wanderte über das Häuschen, die geschlossenen Fensterläden an der Mansarde, das hohe Gras hinter dem Zaun. Offenbar kam die alte Frau nicht mehr recht dazu, Garten und Haus in Schuss zu halten. Ein Schauder, ein Bild vor dem inneren Auge. Gefahr!, rief alles in Berenike.
Die Ministranten passierten die erste Kreuzwegstation. Ihnen folgte ein älterer Priester, dann die Gläubigen. Ein Vorbeter sprach etwas, die Menge antwortete.
»Niemand hier«, murmelte Ellen. »Weder Kurt noch Jonas. Und Franziska ist sicher mit ihrer Großmutter beim Umzug.«
»Dafür ist Paul da.«
Paul? Tatsächlich, er ging an der Seite der Prozession, fast nicht mehr auf dem Weg, und hob grüßend die linke Hand. Als er näher kam, konnte man dunkle Flecken am Ärmel seines Trachtenjankers erkennen.
Und hinter ihm … »Da ist Franziska!«,
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