Goettinnensturz
ruft Ellen halblaut.
Franziska trägt heute ein schwarzes, hochgeschlossenes Kleid, das bis über die Knie reicht, dazu flache Schuhe. Sie wirkt unförmig, und man sieht den Buckel deutlich. Dazu hat sie eine Oma-Handtasche über den angewinkelten Arm gehängt. Ihre Haare sind mit einem Reifen streng aus dem Gesicht gerafft, das lässt es teigig aussehen. Als wäre sie eine völlig andere Person. Der Ausdruck auf Franziskas Gesicht wirkt hart, die Haut weiß wie die der Blutgräfin von anno dazumal. Berenikes Augen suchen Kurt, finden ihn nicht, noch immer nicht. Er müsste an Franzis Seite sein. Wenn sie wirklich verliebt sind. Wenn er dagegen tatsächlich der Mörder ist, lauert er auf sein nächstes Opfer. Jonas vielleicht. Oder er hat ihn schon …
Die Gläubigen passieren, einige nicken Berenike zu, merken nichts von ihrer Stimmung. Der Pfarrer intoniert einen Singsang, die Gläubigen antworten.
Franziska läuft hinter Paul her, der halb zwischen den Bäumen weitergeht, holt ihn ein, tupft ihn an. Der dreht sich um, grinst breit. Franziska neigt sich ihm zu, ein Lächeln im Gesicht, es wirkt wie eingegraben. Sie tritt aus der Menge, einen Schritt in den Wald, winkt Paul zu sich. Der sieht seine Nachbarn in der Prozession an, stiehlt sich zur Seite, hin zu Franziska. Hinter Franziska ein Schatten. Dann ein Lichtblitz. Aber die Sonne scheint gar nicht. Na gut, da drüben ein Stückchen blauer Himmel. Vielleicht eine Lichtreflexion in einem Fenster. Oder – ein geheimes Zeichen. Am Häuschen von Franziskas Oma rührt sich immer noch nichts. Ein leises Geräusch, sie fährt herum. Paul ist fast bei Franziska. Etwas glänzt, funkelt im ansonsten dunklen Wald. Wie düster der daliegt. Berenike starrt. Das Blinkende ist eine Waffe! Und hinter Franziska etwas Violettes. Jonas? Berenike schnappt nach Luft. Eine Faust umklammert ihr Herz. Kaum einer trägt Hemden in dieser Farbe, außer ihm. Sie weiß wieder, wie gut ihm das steht. Als wäre das jetzt nicht egal.
Ihr Herz krampft, krampft sich zusammen. Sie unterdrückt einen Schrei und rennt los.
*
Franziska ist bei Paul und neben seinem Kopf ist ein Messer. Franziska hält das Messer. An seine Gurgel hält sie es, wieso? War ihr Geständnis doch kein Scherz? Sie umklammert ihn mit dem anderen Arm, von hinten, hält seine Arme fest. Obwohl sie so klein ist, viel kleiner als er, rührt er sich nicht. Lächelt, lächelt immer noch, als hielte er alles für ein Spiel. Die Prozession ist längst singend den Berg hinangezogen, der Gesang wird immer leiser. Niemand hat etwas bemerkt. Niemandem gehen die beiden ab.
»Pass auf, Paul!«, schreit Berenike.
Franziska fährt herum. »Das ist jetzt äußerst ungünstig!«, zischt sie. Schief steht sie da, lacht. Hexenkind , meint Berenike zu hören. Sie sieht sich um, sonst ist niemand zu sehen. Ellen ist ihr nicht nachgekommen, sie ist allein mit Franziska, allein mit ihr und Paul, nur noch leise sind die Stimmen der Gläubigen zu hören.
Also ist Franziska … tatsächlich die Mörderin, nach der man sucht. Oder Paul hat etwas getan, gegen das sich Franziska nun wehrt. Und wieso hat er sich nichts Sauberes zum Kreuzweg angezogen? Wieso trägt er was Violettes? Das passt nicht zu seiner Tracht.
»Nimm das Messer weg, Franzi, bitte.« Berenike spürt eine unglaubliche Ruhe, jetzt wo es so weit ist, wo die Konfrontation da ist. Sie war immer schon eine, die lieber Tacheles redet, die das Hintenherum nicht mag, die lieber aneckt mit der Wahrheit, als zu raten, was der andere meinen könnte. Sie mag Menschen nicht, die verschlagen grinsen, mag keine Leute, die sich heute noch erinnern, was ihr Gegenüber Weihnachten 1993 Gemeines gesagt oder getan hat. Dinge, die der andere längst vergessen hat, die nicht wichtig waren – für den anderen schon, nur hat er geschwiegen, jahre-, jahrzehntelang, und wenn es dann aus ihm herausbricht, dann umso wilder, brutaler.
»Franziska, bist du allein?«
»Was glaubst du denn?« Die junge Frau hat ein abfälliges Grinsen im Gesicht, das Berenikes Herz zerschneidet. »Dein … Lover schläft noch.«
Also doch.
»Tja, Berenike, es gibt keine Treue auf der Welt. Tut mir leid für dich.«
»Ich dachte, Kurt ist dein … – wie soll ich es nennen? – … Loverboy?«
»Kurt? Ha!« Das Lachen Fransiskas klingt schrill.
»Was ist mit ihm?« Eine Vorahnung … Etwas ist passiert. Die Stimmen, die Bilder in ihrem Kopf.
»Der … der ist nicht mehr da.« Franziskas Lachen steigert
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