Göttlich verdammt - Angelini, J: Göttlich verdammt
oberhalb von Hector, als er losrannte, um die Strände abzusuchen. Es war unglaublich dunkel, zumal fast überall auf der Insel immer noch der Strom ausgefallen war. Außerdem war es kalt. Alle Inselbewohner waren vermutlich in ihren Häusern, saßen am Kamin oder warfen ihre Notstromgeneratoren an. Der Rest der Familie Delos war überzeugt, dass Kreon die menschenleeren Straßen nutzen würde, um Helens Mutter von der Insel wegzubringen. Cassandra war immer noch zu erschöpft und konnte nichts sehen, und so mussten sie raten, wie er seinen Plan durchführen würde. Vermutlich würde er einen Hubschrauber oder ein Privatflugzeug nehmen. Lucas sollte über Castor und Pallas fliegen, während sie den Flughafen auf der Westseite der Insel überprüften, und Ariadne würde den Fähranleger im Nordwesten übernehmen, für den Fall, dass Kreon sich auf diese Weise mit Daphne aus dem Staub machen wollte. Hector entschied sich freiwillig dafür, den dunklen, verlassenen Strand im Nordosten abzulaufen, was wenig Erfolg versprechend schien.
Helen bot natürlich sofort an, ihn zu begleiten. In den Wochen des Trainings hatte sie eines gelernt: Hector konnte sichin jeden Gegner hineinversetzen und wusste immer, was er als Nächstes tun würde. So logisch die Strategie der anderen Familienmitglieder auch sein mochte, Helen vertraute Hectors Bauchgefühl entschieden mehr als jedem noch so ausgeklügelten Plan. Es hatte eine hitzige Diskussion gegeben, ob man Helen überhaupt erlauben sollte, das Anwesen zu verlassen, aber schließlich konnte niemand aus dem Haus von Theben ihr das Recht absprechen, nach ihrer Mutter zu suchen, dem Oberhaupt des Hauses des Atreus.
Unter sich sah Helen, wie Hector ein paarmal in die Wellen rannte. Sie starrte verblüfft auf ihn hinab. Er hielt jedes Mal inne, breitete die Hände aus und hielt sie ins Wasser, bevor er frustriert wieder hinausstürmte. Sie wusste, dass eine seiner Begabungen mit dem Wasser zu tun hatte, und so, wie er die Wellen prüfte und fast mit ihnen kommunizierte, vermutete Helen, dass er nach etwas auf dem dunklen Ozean suchte. Plötzlich begriff sie, wieso Hector diese abgelegene Strecke gewählt hatte – er suchte nach etwas im Wasser, vermutlich einem Boot, das irgendwo vor der Küste lag. Wieso sollte man Flugpläne ausfüllen oder sich in die Passagierliste einer Fähre eintragen, um eine Insel zu verlassen? Im Dunkel der Nacht brauchte man doch nur ein Ruderboot und ein Schiff, das im tieferen Wasser vor Anker lag, und schon konnte man verschwinden, den Kontinent verlassen, ohne irgendeine Kontrolle zu passieren. Man konnte auch eine entführte Frau mitnehmen, ohne dass es auffiel.
Helen schlug das Herz bis zum Hals und sie suchte das dunkle Meer hektisch nach einem Boot ab. Sie musste immer wieder an diesen bösartigen Blick in Kreons Augen denken, als er ihr denDolch ins Herz stoßen wollte. Helen liebte ihre Mutter nicht – sie kannte sie ja kaum –, aber sie wünschte niemandem dieses blanke Entsetzen, das sie selbst empfunden hatte. Da war etwas Böses in Kreon, und Helen vermutete, dass sie bei ihrem kurzen Kampf mit ihm nur einen Hauch davon mitbekommen hatte, wozu er tatsächlich fähig war.
Plötzlich startete Hector durch und raste mit Höchstgeschwindigkeit den Strand entlang. Helen konnte in der Dunkelheit nicht so gut sehen wie er, und sie musste genau hinstarren, um zu erkennen, welche Fährte er aufgenommen hatte. Doch dann erschrak sie so sehr, dass sie beinahe vom Himmel gefallen wäre.
Am Strand waren dunkle Gestalten. Aber da kein Feuer brannte und auch sonst kein Licht in der Nähe war, konnte Helen nicht erkennen, wie viele Personen es waren. Sie beschleunigte, überholte Hector im Flug und musste hilflos zusehen, wie eine Frau von einem großen Mann in die Knie gezwungen wurde. Helen hörte sie schreien, doch ihr Schrei endete abrupt. Helen flog so schnell wie nie zuvor, schoss herab und kam nah genug heran, um Pandoras leblosen Körper vor Kreons Füße fallen zu sehen. Eine zweite Pandora, die an einen Metallpfahl angekettet war, verwandelte sich schimmernd und flackernd zurück in Daphne.
Als Hector den leblosen Körper im Sand entdeckte, brüllte er auf wie ein Tier. Sein ganzer Körper bebte vor Wut und Schmerz, und Helen wusste, dass die Furien Besitz von ihm ergriffen hatten. Hector war immer noch zu weit weg, rannte aber mit Riesenschritten über den feuchten Sand und ließ Kreon nicht aus den Augen, der sich langsam umdrehte und
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