Gold. Pirate Latitudes
zog ein Gewirr von Tentakeln hinter sich her wie ein Medusakopf. Es schwamm unter dem Schiff hindurch, ohne den Rumpf zu berühren, doch die Wellen, die es erzeugte, brachten die Galeone ins Schaukeln. Dann sah sie es auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kommen und in die blauen Tiefen des Ozeans verschwinden. Sie wischte sich die schweißnasse Stirn.
Lady Sarah Almont kam an Deck und sah Hunter über die Reling nach unten spähen. »Einen guten Tag, Captain«, sagte sie. Er drehte sich zu ihr um und verbeugte sich leicht. »Madam.«
»Captain, Ihr seid ja kreidebleich. Fehlt Euch etwas?«
Ohne eine Antwort zu geben, eilte Hunter auf die andere Seite des Achterdecks und spähte erneut über die Reling nach unten.
Enders am Ruder sagte: »Seht Ihr es?«
»Was denn?«, fragte Lady Sarah.
»Nein«, sagte Hunter. »Es ist abgetaucht.«
»Wir müssten dreißig Faden unter uns haben«, sagte Enders. »Das ist flach für das Ding.«
»Was für ein Ding?«, fragte Lady Sarah und schmollte kokett.
Hunter kam zu ihr zurück.
Enders sagte: »Es kommt vielleicht wieder.«
»Aye«, sagte Hunter.
Lady Sarah blickte von Hunter zu Enders. Beiden Männern stand kalter Schweiß auf der Stirn. Beide waren totenblass.
»Captain, ich bin kein Seemann. Was hat das zu bedeuten?«
Enders’ Anspannung löste sich explosionsartig. »Gott im Himmel, Frau, wir haben da eben –«
»– ein Omen gesehen«, führte Hunter den Satz nahtlos weiter und warf Enders einen eindringlichen Blick zu. »Ein Omen, Mylady.«
»Ein Omen? Seid Ihr abergläubisch, Captain?«
»Aye, er ist sehr abergläubisch, wahrhaftig«, sagte Enders und blickte zum Horizont.
»Offensichtlich«, sagte Lady Sarah und stampfte mit einem Fuß auf, »wollt Ihr mir nicht verraten, was hier im Argen liegt?«
»Sehr richtig«, sagte Hunter lächelnd. Er hatte ein bezauberndes Lächeln, trotz seiner Blässe. Er konnte einen zur Verzweiflung bringen, dachte sie.
»Ich weiß, ich bin eine Frau«, setzte sie an, »aber ich muss wirklich darauf bestehen –«
Doch genau in diesem Moment rief Lazue: »Segel in Sicht.«
Hunter hob sofort das Fernrohr ans Auge und sah genau achtern quadratische Segel über der Horizontlinie auftauchen. Er drehte sich wieder zu Enders um, doch der Meereskünstler brüllte bereits die Anweisung, sämtliche Segel zu setzen, die die El Trinidad besaß. Die Bramsegel wurden entrollt und die Fock gehisst, und die Galeone nahm Fahrt auf.
Ein Warnschuss alarmierte die Cassandra, die eine Viertelmeile voraus war. Gleich darauf hatte auch die kleine Schaluppe alle Segel gesetzt.
Hunter blickte wieder durchs Fernrohr. Die Segel am Horizont waren nicht größer geworden – aber auch nicht kleiner.
»Allmächtiger, von einem Ungeheuer zum nächsten«, sagte Enders. »Wie halten wir uns?«
»Ganz gut«, sagte Hunter.
»Wir müssen bald von diesem Kurs runter«, sagte Enders.
Hunter nickte. Die El Trinidad segelte vor einem östlichen Wind, doch ihr Kurs brachte sie zu weit nach Westen, auf die rechter Hand liegende Inselkette zu. Schon bald würde das Wasser zu flach sein, und sie würden den Kurs ändern müssen. Für jedes Schiff bedeutete eine Kursänderung wenigstens eine vorübergehende Geschwindigkeitseinbuße. So unterbesetzt wie die Galeone war, würde sie besonders langsam werden.
Hunter sagte: »Könnt Ihr sie vor dem Wind wenden?«
Enders schüttelte den Kopf. »Zu riskant, Captain. Wir haben zu wenig Mann.«
Lady Sarah sagte: »Was habt Ihr denn?«
»Still«, sagte Hunter. »Geht nach unten.«
»Ich werde nicht –«
»Geht nach unten!«, brüllte er.
Sie wich zurück, aber sie ging nicht unter Deck. Aus einiger Entfernung schaute sie sich das, wie sie fand, seltsame Spektakel an, das sich ihr darbot. Dieser Lazue kam mit katzenhafter Geschmeidigkeit und fast weiblichen Bewegungen die Takelage herabgeklettert. Dann bemerkte Lady Sarah schockiert, dass der Wind gegen Lazues Hemd drückte und unzweifelhaft die Umrisse von Brüsten erkennen ließ. Der Gentleman war also eine Frau! Ihr blieb jedoch keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn Hunter stand jetzt mit Lazue und Enders zusammen und alle redeten aufgeregt miteinander. Hunter deutete auf das Verfolgerschiff und dann auf die Inselkette rechter Hand. Er wies zum wolkenlosen Himmel und zur Sonne, die inzwischen bereits auf dem Weg nach unten war. Lazue hatte die Stirn in Falten gelegt.
»Zu welcher Insel wollt Ihr?«, fragte sie.
»Cat Island«, sagte Enders und
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