Gold und Stein
Angst musste sie gehabt haben. Doch wovor? Eine Welle des Mitleids überflutete sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde ihr klar, dass die Mutter womöglich gar nicht die starke, durch nichts zu erschütternde Frau sein mochte, als die sie sie bislang stets erlebt hatte. Hinter der harten Fassade verbarg sich offenbar eine zutiefst verletzte Seele. Vielleicht, so schöpfte Agnes Hoffnung, gelang es ihr mit Hilfe von Laurenz’ Muhme, Gundas Geheimnis zu ergründen. Zumindest wusste Agatha, wer ihr richtiger Vater gewesen war: ein Böttchermeister aus dem Löbenicht. Gut möglich, über diese Nachricht eine Spur des verlorenen Bruders zu finden. Diese Aussichten trösteten sie ein wenig über den wortkargen Abschied von Laurenz hinweg. Die Zeit bis zu seiner Rückkehr galt es zu nutzen, Licht in das Dunkel der Vergangenheit zu bringen. Das Zittern ihrer Hände ließ nach. Es gelang ihr, sich anzukleiden. Als sie zu Agatha und den beiden Mägden in die Diele zurückkehrte, war die Verzweiflung aus ihrem Gesicht verschwunden.
»Gut, dass du wieder da bist«, empfing Agatha sie. »Iss deinen Gerstenbrei mit uns. Gleich nachher heißt es, an die Arbeit zu gehen. Heute ist Brautag! Bevor ich dich zu Theres und Marie in die Werkstatt lasse, um Borten zu fertigen, wirst du mir hier in der Diele mit dem Bier zur Hand gehen. Darin wirst du dich gewiss eher einfinden als in das Sticken und Weben.«
»Ich bin neben der Sudpfanne groß geworden. Von klein auf habe ich meiner Mutter beim Brauen geholfen.«
»Umso besser für uns alle, Meisterin!«, stellte Theres erfreut fest. »Dann müsst Ihr Euch künftig nicht mehr grün und blau ärgern, weil Marie und ich so gar kein Talent fürs Brauen an den Tag legen. Viel besser widmen wir uns den bestellten Bändern. Es liegt einiges an, seit Kaufmann Felbert von seiner Reise zurückgekehrt ist. Seine Frau hat gar nicht ausreichend Haare auf dem Kopf, all die guten Stücke auf einmal hineinzuflechten, die er für sie bestellt hat.« Keck stupste sie Marie in die Seite. Sogleich sprangen die beiden von der Bank und eilten in die angrenzende Werkstatt.
»Du siehst, Liebes«, wandte sich Agatha an Agnes, »deine Ankunft hier in der Krummen Grube kommt uns allen sehr zupass.«
»Ich denke, der Aufenthalt hier bei Euch wird auch mir sehr zupasskommen.«
6
I n der Tat dauerte es nicht lang, bis Agnes den Aufenthalt bei Laurenz’ Muhme zu ihrer eigenen Überraschung geradezu als Wohltat empfand. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus Wehlau vor gut zwei Wochen konnte sie sich wieder nützlich machen. Das Bierbrauen vollzog sich in Agathas Haus in weitaus beengteren Verhältnissen als im Silbernen Hirschen in Wehlau. Auf dem trockenen, warmen Dachboden direkt neben der Schlafkammer wurden Malz und Hopfen aufbewahrt, während das Bier in den Bottichen im kühlen Keller lagerte. Sowohl das Einmaischen des Gerstenmalzes als auch das Läutern der Maische und das anschließende Sieden der Würze galt es mitten in der Diele über dem Herdfeuer zu bewerkstelligen. Wie Laurenz ihr erklärt hatte, brachten zwei Brauknechte die Sudpfanne nur für diesen Tag ins Haus. Agnes’ Wangen glühten vor Eifer, als sie den Hopfen bereitstellte.
»Ich sehe schon, das Bierbrauen lässt dich aufblühen.« Unter Ächzen richtete sich Agatha vom Herd auf, nachdem sie noch Holz nachgelegt hatte, um das Feuer kräftiger zu schüren. »Leider kann ich dir diese Arbeit nicht jeden Tag bieten. Unsere Ratsherren haben vor wenigen Jahren eine strenge Verordnung erlassen, die besagt, dass jedes Haus mit Braurecht höchstens einen Bottich pro Woche brauen darf, und das auch nur an einem bestimmten Tag in der Woche. Sie fürchten wohl, wir würden sonst alle im Gerstensaft ertrinken. Dabei wird ein Großteil des Löbenichter Bieres an die Schankwirte in der benachbarten Altstadt und im Kneiphof verkauft. Auch einige Krüger außerhalb der drei Städte nehmen es uns ab. Auf den Freiheiten gibt es kaum Anwesen mit eigenem Braurecht. Zudem stehen die feinen Herrschaften der Dominsel ungern selbst an der Sudpfanne. Dabei verfügen sie über Häuser mit großen Dielen, in denen ordentliche Braupfannen Platz fänden. Nun, offenbar ist ihnen die Arbeit nicht fein genug. Du hättest sie mal zu Beginn des Sommers hören sollen, als während der Belagerung des Kneiphofs kein Fass Bier über den Pregel geschafft werden konnte! Das wütende Gebrüll aus ihren ausgedörrten Kehlen schallte bis zu uns in den Löbenicht. Bis letzte
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