Gold und Stein
kennengelernt. Kurz nach deiner Geburt ist er eines tragischen Todes gestorben. Deine Mutter hat danach sehr schnell die Stadt verlassen. Haus und Hof hat sie verloren, nichts ist ihr geblieben außer dem nackten Leben. Tja, des Schicksals Wege sind für uns Sterbliche oft rätselhaft.«
»Bitte erzählt mir mehr!«, flehte Agnes. Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte sie jemanden über ihren leiblichen Vater reden. Ihr war, als bekäme sie den ersten Zipfel des Schleiers über der Vergangenheit zu fassen.
»Leider weiß ich nicht mehr. Drei-, viermal werde ich deine Mutter vor der Geburt bei meiner Schwester gesehen haben. Von Mal zu Mal war sie seltsamer gestimmt. Zum Trost habe ich ihr eines meiner schönsten Bänder geschenkt.«
»Das wisst Ihr noch? Es ist mehr als siebzehn Jahre her!«
Agnes war verwirrt und wusste nicht so recht, wie sie die Muhme noch einmal auf die Todesumstände ihres Vaters ansprechen sollte.
»Vielleicht hätte ich es längst vergessen, wenn meine Schwester mir nicht später ganz aufgeregt von der Geburt erzählt hätte. Es ist keine gewöhnliche Niederkunft gewesen. Zwillinge kommen nicht alle Tage zur Welt, musst du wissen, gesunde noch dazu. Leider hat Gerda keine Einzelheiten berichtet. Dafür hat sie noch Jahre später bei jeder Gelegenheit von deiner Mutter und ihrem schweren Schicksal angefangen. Sogar in ihrer letzten Stunde hier auf Erden hat sie darüber gesprochen. ›Am Mal im Nacken‹, hat sie gesagt, ›werden sie sich einst wiedererkennen.‹ Bis heute ist mir ein Rätsel, was sie damit gemeint hat. Aber als du gestern mit dem Halstuch vor mir gestanden bist – ein Ebenbild deiner Mutter –, ist es mir wieder eingefallen. Erzähl mir, Liebes, wie geht es deinem Bruder? Ein kräftiger junger Mann wird er inzwischen sein, gewiss ganz das Ebenbild seines braven Vaters.«
»Ich habe keinen Bruder«, erwiderte Agnes tonlos.
»Oh«, entschlüpfte es Agatha. Bevor sie nachhaken konnte, wurden sie gestört.
»Guten Morgen«, schallten zwei fröhliche Stimmen von der Hoftür herein. »Was ist los, Meisterin? So früh schon Besuch?«
Zwei junge Frauen in schlichten Leinenkleidern und Schürzen betraten die Diele. Mit ihnen wehte kühle Morgenluft herein. Zwar sprachen sie im Gleichklang, unterschieden sich aber ansonsten wie Feuer und Wasser voneinander: Die eine war gertenschlank. Auffallend schwarzes Haar lockte sich um das ebenmäßige Gesicht, in dem zwei nicht minder schwarze Augen munter funkelten. Ihre glockenhelle Stimme war Ausdruck ihrer Lebensfreude. Ihre Gefährtin dagegen war von gedrungener Statur. Aus ihrem Vollmondgesicht stachen vor allem die großen Zähne hervor, die kaum Platz in dem dicklippigen Mund fanden und sich übereinanderschoben. Ihr Schädel war von lichtem, aschblondem Haar mehr schlecht als recht bedeckt, die grauen Augen glänzten jedoch nicht minder fröhlich. Unverhohlen musterten die beiden Agnes. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie noch immer lediglich mit dem Hemd bekleidet war und mit einer wollenen Decke auf den Schultern barfüßig vor der Muhme stand.
»Wohlan, meine Lieben, wie schön, euch zu sehen!«, klatschte die Muhme fröhlich in die Hände. »Das ist Agnes. Laurenz hat sie gestern Abend zu uns gebracht. Sie wird einige Zeit bei uns wohnen. Doch zuerst gehst du besser nach oben, Liebes, und ziehst dich an.«
In der Kammer stieß Agnes die Fensterläden auf und schnappte nach Luft. Sie meinte, ersticken zu müssen, so schwer lasteten die eben erfahrenen Neuigkeiten auf ihrer Seele. Ein Sperling hüpfte über die Äste zum Fenstersims, beäugte sie mit schief gelegtem Köpfchen. Den vertrauten Anblick ertrug sie nicht. Überstürzt wandte sie sich dem Bündel zu, in das sie in Wehlau ihre Habseligkeiten eingerollt hatte. Kaum wollten ihr die Finger gehorchen, um die Schnur aufzuknüpfen. Endlich gelang es ihr doch, und sie konnte zwischen den Kleidern und der Wäsche nach der Borte kramen, die ihr die Mutter letztes Jahr geschenkt hatte.
Mit zittrigen Händen hob sie sie vor den Mund und presste einen Kuss darauf. Heiße Tränen rannen ihr die Wangen hinab. Zumindest was die Herkunft der Borte betraf, hatte Gunda nicht gelogen. Um »ein Erinnerungsstück aus vergangenen Tagen« handelte es sich tatsächlich, auch wenn die Mutter den Eindruck erweckt hatte, der gute Fröbel hätte sie ihr geschenkt. Plötzlich sah Agnes die Mutter als junge Frau vor sich, mit einem weit hervorquellenden, schweren Bauch. Schreckliche
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