Gold und Stein
Eindruck, den die eingefallenen Wangen noch verstärkten. Unverkennbar breitete der Tod die Schwingen über sie aus. Gunda wurde die Brust eng. Was gäbe sie darum, Agnes jetzt zur Seite zu haben!
»Gunda, Liebes!« In Lores Augen glühte ein letzter Funke. Solange dieser Funke nicht erloschen war, steckte noch Lebenswille in ihr.
»Mutter, bleib bei mir!«, flehte Gunda und sank auf die Knie, presste die Lippen auf Lores knochige, kalte Hand. »Lass mich nicht allein!« Über den letzten Worten versagte ihr die Stimme. Sie hob den Kopf und schluckte.
Den Blick starr auf die ausgezehrte Frau im Bett gerichtet, hatte sie auf einmal ein Bild aus lang vergessenen Zeiten vor Augen: Die schöne Kaufmannsgattin Lore Rosskamp aus Westfalen tauchte vor ihr auf, den schlanken Leib in ein aufwendig besticktes Kleid aus schimmernder Seide gehüllt, Finger und Handgelenke mit kostbaren Ringen geschmückt, das dichte, dunkle Haar züchtig mit einem zarten Krüseler bedeckt. Stolz schritt sie neben ihrem hochgewachsenen, ebenfalls in elegante Tuche gewandeten Gemahl die Treppe des Kaufmannshauses in Dortmund herab. Ein Lächeln stahl sich auf Gundas Antlitz. Viel zu rasch verschwand es wieder. Keiner von beiden hatte damals ahnen können, dass die Reise zu Gundas Hochzeit in Königsberg das bittere Ende ihres beneidenswerten Glücks mit sich bringen würde. Sogleich schob sich ein weiteres Bild in Gundas Erinnerung: das einer von unermesslicher Pein gequälten Frau. Die Kleider in blutgetränkte Fetzen zerrissen, die dreckstarrenden Haare wild zerrauft, lag sie quer über dem geschundenen Leib ihres Gemahls. Laut haderte sie mit Gott, der ihr den über alles geliebten Ewald auf solch furchtbare Weise von der Seite gezerrt hatte. Wieder musste Gunda um Luft ringen, zugleich die Faust vor den Mund halten, um nicht laut aufzuschreien. Selbst nach all den Jahren, die seither vergangen waren, brachte sie es kaum über sich, an jene entsetzlichen Stunden zurückzudenken. In ihrer besinnungslosen Trauer hatte Lore lange nicht begreifen wollen, was Gunda zur selben Zeit widerfahren war, und nur Augen für den toten Gemahl gehabt. Als sie viel zu spät erst des Leides ihrer Tochter gewahr geworden war, hatte Gunda ihr Schicksal schon selbst in die Hand genommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie das Weinen verlernt. Eine unsichtbare, unüberwindliche Kluft hatte sich damals zwischen Lore und ihr aufgetan. Trotzdem war Gunda stets froh gewesen, die Mutter an ihrer Seite zu wissen. Unvorstellbar, sie endgültig zu verlieren.
»Lass mich gehen, Kind«, stieß Lore mühsam zwischen den blassen Lippen heraus. »Es wird Zeit.«
Ein seliges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, die Augen leuchteten.
»Nein!«, schrie Gunda und umklammerte ihre eisige Hand fester. »Ich weiß, wohin du willst, doch ich lass dich nicht fort! Vater kann warten. So lange schon wartet er auf dich. Auf einige Jahre mehr oder weniger kommt es nicht an. Mich aber darfst du nicht allein lassen. Nicht schon wieder, Mutter! Ich brauche dich hier. Eigentlich habe ich dich immer gebraucht, viel mehr, als Vater dich je gebraucht hat. Wenn du jetzt gehst, dann weiß ich nicht, was ich tun soll.«
Plötzlich war ihr, als löste sich der Knoten in ihrer Kehle. Ein Beben durchlief ihren Leib, sie schluchzte laut auf und sank vornüber. Hemmungslos gab sie sich den Tränen hin.
»Nicht weinen, Kind!«, hörte sie Lores Stimme erstaunlich klar. »Meine Zeit ist gekommen. Du irrst dich, wenn du denkst, du brauchtest mich jetzt mehr als dein Vater. Er wartet schon so lange auf mich. Vergib mir, mein Kind. Gerade in dem Moment, als du meiner am meisten bedurftest, habe ich kläglich versagt. Niemals habe ich mir das verziehen. Und doch konnte ich damals nicht anders. Ewald hat mich ebenfalls gebraucht, mehr, als du dir vorstellen kannst. Du warst ohnehin immer schon die Stärkste von uns dreien, Liebes.«
Die letzten Worte gingen in einem heiseren Krächzen unter. Erschöpft hielt sie inne, richtete die Augen an die Decke des Betthimmels aus Eichenholz. Die blutleeren Lippen zitterten kaum merklich.
Gunda mochte kaum glauben, was sie da gerade gehört hatte. Wie konnte Lore ihre eigene Tochter nur derart verkennen? »Bleib ruhig, Mutter«, hörte sie sich im selben Moment zu ihrer eigenen Verwunderung mahnen und streichelte ihr sacht über die Wange. Lore schluckte mühsam, wandte das Antlitz langsam zu ihr um. Der tränenverschleierte Blick zog Gunda das Herz
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