Gold und Stein
Mutter«, sagte sie leise.
Bevor sie das Schlafgemach verließ, öffnete sie die Fensterläden. Sofort wirbelte ihr eine kräftige Böe Staub und Blätter ins Gesicht. In dem Apfelbaum hüpften zwei Vögel aufgeregt zwitschernd von Ast zu Ast. Als sie Gundas gewahr wurden, legten sie die Köpfe schief und betrachteten sie. Wie auf Kommando erhoben sie sich gleichzeitig in die Luft. Gunda sah ihnen nach, wie sie in der Ferne verschwanden. Schweren Herzens wandte sie sich wieder um und ging nach unten in die Schankstube, um Griet und Ulrich von Lores Tod zu berichten.
»Sobald meine Mutter ihre letzte Ruhe auf dem Friedhof gefunden hat, werde ich Wehlau verlassen«, erklärte sie. Magd und Knecht saßen dicht nebeneinander auf einer der Bänke. Griets Gesicht war vom Weinen rot verquollen, fahrig knetete sie ihre kurzen, dicken Finger. Auch Ulrich konnte nur schwer die Tränen in seinem gesunden Auge zurückhalten.
»Ihr werdet den Silbernen Hirschen bis zu meiner Rückkehr allein weiterführen«, fügte sie hastig hinzu. Das Nachdenken über die anstehenden Notwendigkeiten verhinderte, dass sie von neuem von ihren Gefühlen überwältigt wurde. »Ulrich, du weißt, wie viel Brau uns für den Rest des Jahres noch zusteht. Lass dir ausreichend Malz von der Mühle bringen. Der Hopfen müsste reichen. Haude wollte noch einige neue Fässer liefern. Jetzt, da die Belagerung vorbei ist, wird es ausreichend Holz geben. Denk daran, nur das Wasser aus unserem eigenen Brunnen fürs Brauen zu verwenden. Jedes andere ist zu schlecht. Ich hoffe, nicht allzu lange fortzubleiben.«
Nun versagte ihr doch die Stimme. Wie seltsam, sich mit dem Brauen zu beschäftigen, wenn oben im Schlafgemach Lores kaum erkalteter Leib auf den Totengräber wartete. Erst nach einer längeren Pause fühlte sie sich imstande fortzufahren: »Wer weiß, ob es überhaupt viel für euch zu tun gibt. Bislang schlagen die Leute einen weiten Bogen um den Silbernen Hirschen. Es hat sich wohl herumgesprochen, dass meine Mutter im Sterben liegt. Mit dem Tod will vorerst niemand mehr in Berührung kommen. Davon abgesehen, wird auch der Wehlauer Markt für lange Zeit nicht sonderlich gut besucht sein. Die wochenlange Belagerung durch die Kreuzherren hat ihre Spuren hinterlassen.«
»Darunter werden wir nicht lange leiden.« Ulrich löste sich allmählich aus der Starre. »Wie im Flug breitet sich die Kunde von unserem erfolgreichen Widerstand gegen die Weißmäntel im ganzen Land aus. Bei vielen stößt sie auf Bewunderung. Letztlich ist der Kampf für uns glimpflich ausgegangen. Vierzig Tote hat es in unseren Reihen gegeben, die Kreuzherren dagegen haben zweihundert Mann und fünf Boote verloren. Die Leute wollen wissen, wie wir den Abzug von Reuß von Plauen und seinen Mannen erzwungen haben. Es war ein weiser Entschluss, nach dem ersten Scharmützel zum Rückzug hinter die festen Mauern zu blasen. Selbst die wildeste Entschlossenheit der Kreuzherren ist daraufhin ins Leere gelaufen. Unsere Befestigung hat an allen Ecken ihrem Ansturm standgehalten. Sang- und klanglos hat Reuß von Plauen seine Truppen abdrehen lassen. Dabei waren sie uns an Waffen und Manneskraft haushoch überlegen. Ihr werdet staunen, liebe Fröbelin, wie viele Kaufleute aus nah und fern demnächst kommen werden, um sich mit eigenen Augen von unserem Sieg zu überzeugen. Immerhin sind wir eine der wenigen Städte, die nach wie vor treu zum Preußischen Bund stehen. Da werden wir sämtliche Biervorräte schneller los, als wir sie auffüllen können.«
Zufrieden rieb er sich die Hände, bis ihm Griet einen kräftigen Stoß mit dem Ellbogen versetzte und empört zischte: »Wie kannst du es wagen, ausgerechnet jetzt …«
»Lass gut sein«, wiegelte Gunda ab. »Auch nach Lores Tod geht das Leben weiter. Ulrich tut recht daran, davon zu sprechen. In den letzten Tagen habe ich kaum mitbekommen, was außerhalb von Lores Schlafgemach vor sich ging. Das Getümmel während des Gefechts hat sich durch die geschlossenen Läden angehört, als stünde der Weltuntergang bevor. Ich hatte schon Angst, eines der Wurfgeschosse träfe unser Dach. Nicht auszudenken, wenn wir Lore in ihren letzten Stunden hätten fortschaffen müssen. So ist es ihr letztlich vergönnt gewesen, im eigenen Bett die Augen für immer zu schließen.«
»Und in den Armen ihrer geliebten Tochter«, fügte Griet hinzu.
»Aber leider ohne Agnes«, entfuhr es Gunda. Der Gedanke rief neuen Schmerz in ihr hervor. Zwar hatte sie ihren
Weitere Kostenlose Bücher