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Gold und Stein

Gold und Stein

Titel: Gold und Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Gerüche der Garküchen und das Herumtanzen der Spielleute dicht vor ihrer Nase kümmerte sie kaum. Sie musste die richtige Gasse suchen, die sie vom Altstädter Markt hinunter zum Pregel und von dort über die Krämerbrücke in den Kneiphof führte.
    Mit jedem Schritt wurde das Gefühl stärker, dass ihr die Mutter über dem bislang Herausgefundenen fremd geworden war. Längst schien sie ihr nicht mehr die willensstarke, unnahbare Schankwirtswitwe von Mitte dreißig, als die sie sie kannte, sondern hatte sich in eine junge, verzagte Frau verwandelt, die die nahe Niederkunft völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Das Schicksal hatte ihr übel mitgespielt und den geliebten Mann jäh von der Seite gerissen. Verständlich, dass sie den Löbenicht als den Ort allen Unglücks rasch verlassen hatte. Warum aber nicht, wie von Meister Jörgen vermutet, um mit ihrer Mutter zurück in die alte Heimat nach Westfalen zu gehen? Und warum nur mit einem Kind? Wo war der Junge geblieben? Agatha hatte die Geschichte ganz anders erzählt als Meister Jörgen.

11
    D ie für Anfang September ungewöhnlich heftigen Stürme machten es nötig, die Fensterläden selbst bei Tag fest verschlossen zu halten. Unbarmherzig rüttelte der Wind daran, als begehrte er auf der Stelle Einlass. Die Luft in der dämmrigen Schlafstube war stickig. Die Talglichter verströmten einen fauligen Geruch.
    Seit Tagen, so schien es Gunda, hatte sie kaum mehr frische Luft geatmet als den schwachen Hauch, der zwischen den Ritzen der hölzernen Läden nach innen drang. Das Atmen fiel ihr schwer, der Kopf schmerzte. Das lag nicht allein an der abgestandenen Luft im Schlafgemach. Die Sorge um Lore raubte ihr schier die Sinne. Nach der kräftezehrenden Zeit der Belagerung und den anschließenden schweren Gefechten zwischen Ordensrittern und Wehlauer Söldnern hatte die Mutter ein rätselhaftes Fieber erfasst. Der Kampf um die Stadt war letztlich siegreich für die Bürger ausgegangen. Reuß von Plauen und seine Mannen waren abgezogen. Auf sämtlichen Plätzen und Gassen wurde gefeiert. Im Silbernen Hirschen gab es jedoch keinen Anlass zur Freude. Je mehr der Jubel draußen anschwoll, desto weiter stieg Lores Fieber an. Weder Aderlass noch Kräuterkur vermochten etwas dagegen auszurichten, kein Bader und keine weise Frau wussten Rat. Gunda wollte aufschreien vor Verzweiflung. Hatte sich das Schicksal wieder gegen sie verschworen? Erst tauchte Laurenz Selege auf und zerrte lang verdrängtes Leid ans Licht, dann nahm er Agnes mit sich fort, und nun kämpfte Lore ihren letzten Kampf. Das durfte nicht sein! Gunda war wild entschlossen, ihre Mutter nicht gehen zu lassen. Außer ihr war ihr niemand mehr geblieben. Voller Angst blickte sie auf die Frau in dem Bett vor ihr, auf die in sich zerfallene Gestalt, die nur noch einen schwachen Schatten Lores darstellte. Es schmerzte, sie derart rasch dahinschwinden zu sehen und nichts dagegen ausrichten zu können.
    Das Rütteln an den Fensterläden wurde kräftiger. Froh, einen Grund zum Aufstehen zu haben, erhob sich Gunda von ihrem Schemel und prüfte, ob die Riegel ordentlich eingerastet waren. Die Hand auf der eisernen Schließe, lehnte sie die Stirn gegen den Handrücken und atmete tief durch. Wie so oft in den letzten Jahren sehnte sie sich danach, einfach weinen zu können. Letztens war ihr das doch auch geglückt! Sie biss die Lippen aufeinander, hoffte, wartete. Die rehbraunen Augen blieben trocken. Der Druck hinter der Stirn dagegen wurde unerträglich.
    »Wo bist du, Kind?«, hörte sie Lores schwache Stimme vom Bett her. Es zerriss ihr das Herz.
    »Hier«, beeilte sie sich zu versichern und stürzte zu ihr. Bang fasste sie nach Lores krummen Fingern. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Lores Hände waren eiskalt. »Keine Angst, ich bin immer für dich da, Mutter. Ich lasse dich nicht allein. Das weißt du doch.«
    »Gutes Kind.« Ein Seufzen entfuhr Lores Mund. Das Talglicht auf der Truhe neben dem Bett flackerte. In seinem schwachen Schein betrachtete Gunda den abgemagerten Leib. Kaum zeichnete er sich unter dem dünnen Betttuch ab. Die Hungerszeit während der Belagerung im August hatte bereits seine Spuren darin eingegraben, das seit Tagen währende Siechtum tat ein Übriges. Allmählich ähnelte die Farbe von Lores Haut dem Weiß der Wäsche. Scharf hoben sich die Konturen des Gesichts aus den Kissen heraus. Die sehr lange, schmale Nase mit dem auffälligen Höcker verlieh ihm etwas Habichthaftes, ein

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