Gold und Stein
selben Sommer geboren ist. Bis zum heutigen Tag erfreut das Mädchen mich und meine liebe Frau mit seiner Tüchtigkeit.«
Er winkte der Frau am Suppenkessel zu, die Agnes für eine Magd gehalten hatte. Bei genauerem Hinsehen war die Verwandtschaft augenfällig. Auch sie war recht groß und breit, der schwere Kopf saß auf einem kurzen Hals.
»Leider sind uns keine weiteren Kinder vergönnt gewesen«, fuhr der Wirt fort. »Jetzt hoffen wir, sie findet bald einen braven Mann, der mit ihr eine Familie gründet. Ich wüsste auch schon, wem ich sie gern anvertrauen würde.« Munter zwinkerte er ihr zu. »In dieser Sache sollte ich mich an Euch halten. Bestimmt erfahrt Ihr es als Erste, wann der gute Laurenz Selege von seinen vielen Reisen zurückkehrt. Gebt mir sofort Nachricht, dann will ich mich mit ihm zusammensetzen. Schon als er den Weiterbau an meinem Haus im letzten Jahr vorangetrieben hat, kam es mir so vor, als gefiele ihm meine kleine Milla. Natürlich war sie da noch viel zu jung, doch jetzt wird es allmählich Zeit.«
»Ihr wolltet mir von Kelletat berichten«, hakte Agnes ein, als er eine kurze Pause einlegte und sich die Hände rieb. Es behagte ihr nicht, wie er von Laurenz sprach. »Wie schade, dass es hier niemanden mehr aus der Familie gibt.«
»Ja, das ist eine seltsame Geschichte.« Meister Jörgen strich sich nachdenklich durch den roten Bart. »Kurz vor seinem Tod ist ihm eine Tochter geboren worden, genau wie mir. Dann aber ist Kelletat unglücklich in seinem Haus gestürzt. Auf der steilen, engen Treppe vom Obergeschoss in die Werkstatt hinunter, heißt es. Seine arme Frau ist wenig später mit der Kleinen fort aus der Stadt. Niemand weiß genau, wohin. Dabei hätte sie als Witwe gut die Werkstatt weiterführen können. Die beiden Knechte haben sich ordentlich auf ihre Kunst verstanden. Kelletat hat sie bestens angelernt. Vielleicht hätte sie früher oder später einen von ihnen …«
»Meine Muhme hat erzählt, der armen Frau sei das Erbe nach Streitigkeiten weggenommen worden. Deshalb ist sie fort«, fiel Agnes ihm ins Wort.
»Streitigkeiten ums Erbe? Nein, ganz bestimmt nicht.« Heftig schüttelte er den Kopf, hakte nicht einmal nach, woher Agatha das wissen sollte, wenn sie sonst nichts zu Kelletat wusste. »Wer hätte da etwas streitig machen sollen? Familie hatte Kelletat außer der Frau keine. Die sind alle früh gestorben oder fortgezogen. Er selbst ist zeit seines Lebens ein rechtschaffener Mann gewesen. In seiner Zunft hat er hohes Ansehen genossen. Da hat es ganz sicher nirgendwo Streit oder Zweifel an seinem Besitz gegeben. Im Gegenteil: Die Zunftkasse hätte der Frau beigestanden und über das Gröbste hinweggeholfen. Soweit ich weiß, ist die Frau mitsamt ihrer Mutter und dem kleinen Kind zurück in ihre alte Heimat. Sie stammte nämlich nicht von hier. Erst kurz vor der Heirat mit Kelletat ist sie hier aufgetaucht. Ich weiß noch, wie er ihr in meiner Gaststube zum ersten Mal begegnet ist. Eine ansehnliche junge Frau, sehr groß, sehr klug, aber von einer anrührenden Traurigkeit. Da fällt mir auf: Ihr ähnelt ihr ein wenig. Das mag daran liegen, dass Ihr ebenfalls sehr groß seid. Meine liebe Gattin hat sich damals übrigens sehr darum bemüht, die junge Frau aufzumuntern. So ist sie, meine Milla. Meine Tochter trägt ihren Namen. Gewiss wird auch sie einmal so innig am Leben ihrer Mitmenschen teilhaben wie ihre Mutter. Vielleicht sollte ich Euch beide miteinander bekannt machen? Ihr dürftet nicht viel jünger sein als sie.«
»Beim nächsten Mal sehr gern«, winkte Agnes ab. »Für heute muss ich mich leider verabschieden. Meine Muhme hat mir noch aufgetragen, diese Borten zu Kaufmann Felbert in den Kneiphof zu bringen. Verratet Ihr mir den schnellsten Weg zu ihm?«
»Wie Ihr wollt.« Meister Jörgen wirkte enttäuscht, erklärte ihr jedoch bereitwillig, wie sie zu Felbert kam. »Passt gut auf Euch auf, liebes Fräulein«, schloss er. »Seit einigen Monaten treibt sich bei uns seltsames Gesindel auf den Gassen herum. Nicht nur des Bieres wegen wäre es schade, wenn Eure liebe Muhme wieder auf Eure Hilfe verzichten müsste.«
Gutmütig tätschelte er ihr die Schulter. Dabei verrutschte ihr Halstuch. Sie zuckte zusammen und richtete es hastig aus. »Gehabt Euch wohl und vielen Dank!«, murmelte sie, presste das Päckchen mit den Borten gegen ihre Brust und eilte nach draußen.
In die Menge der Marktbesucher einzutauchen war die reinste Wohltat. Selbst die scharfen
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