Gold und Stein
während der Messe wollten die Heiden sie stürmen. Gott aber stand seinen Gläubigen bei. Auf sein Geheiß sank ein gewaltiger Feuerball hernieder, der die Ungläubigen auf einen Schlag grausam vernichtete. Der Priester und die Christen aber wurden auf einer Wolke emporgehoben. An der Stelle, an der der Feuerball in die Erde einschlug, hat sich der See als mahnende Erinnerung an jenes Ereignis ausgebreitet. Das erklärt seine kreisrunde Form.«
»Wie schade, dass wir ihn nicht sehen.« Bedauernd schweiften Agnes’ Augen umher. Seit Stunden schon durchfuhren sie die Ebene mit ihren weit ausladenden, satten Wiesen und den geheimnisumwitterten Birken- und Kiefernwäldern. Gelegentlich erspähten sie am Waldsaum einen Fuchs oder eine Gruppe Damwild, auch Wisente kreuzten ihren Weg. In den Lüften über den abgeernteten Feldern zogen Raubvögel ihre Bahnen, lauerten wachsam auf Beute. Kormorane sammelten sich für ihren Weg gen Süden, auch Schwärme kleinerer Vögel kreisten am Himmel. Verstreut lagen einzelne Gehöfte und winzige Lischken entlang der Strecke. Selten war einer der Bewohner auf dem Acker zu entdecken. Die regengeschwängerte Luft sowie die heraufziehende Dämmerung trieben die Menschen ans wärmende Herdfeuer.
Fröstelnd rieb Agnes sich die Arme und duckte sich tiefer in ihren wollenen Umhang. Wie viel war geschehen, seit sie in drückender Augusthitze mit Laurenz aus Wehlau fortgegangen und über Labiau sowie Pronitten nach Königsberg an den Pregel gezogen war? Auch Laurenz hatte Geschichten über heilige Steine, traditionsreiche Eichen oder sagenumrankte Kultstätten zu erzählen gewusst, ganz zu schweigen von seinen begeisterten Erklärungen der Bauwerke, die Ordens- und Kaufleute entlang ihrer Reisestrecke hatten errichten lassen. Was würde er zu Elbing wissen? Hieß es nicht, die Stadt sei auf besonders fruchtbarem Grund errichtet? Gebannt richtete sie den Blick nach vorn.
»Gleich sind wir da!«, verkündete Struth und schnalzte mit der Zunge, um das Pferd kurz vor dem Ziel noch einmal anzutreiben. Doch der Braune ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Träge zockelte er weiter, nicht minder unverdrossen hob Julia zu einer weiteren Geschichte an. »Der Name Elbing stammt von dem gleichnamigen Fluss«, hörte Agnes sie erzählen, während sich die Stadtsilhouette vor ihren Augen aus dem Dunst schälte. Sie näherten sich Elbing von Osten her. Prachtvolle Türme und stufenverzierte Giebel ragten weit in den wolkenverhangenen Himmel, eine trutzige Mauer aus rotem Backstein umgab die Stadt. Der Anblick nahm ihr den Atem. Inniger denn je sehnte sie sich nach Laurenz, wünschte sich, Elbing an seiner Seite zu betreten. Vor dem breiten, doppelflügeligen Tor stauten sich Fuhrwerke und Karren sowie eine Handvoll Wanderer. Offenkundig waren es weder Deutschordensritter noch Söldner aus Böhmen. Gegen den leichten, aber steten Regen hatten sie die Gugeln tief ins Gesicht gezogen. Der aufbrausende Ostwind zerrte an ihren Umhängen. Die Wachen hatten es eilig, die Reisenden nach einer kurzen Befragung durchzuwinken und das Tor für die Nacht zu schließen.
»Na also«, knurrte Struth und hieß das Pferd wieder anziehen. Mehr sagte er nicht, auch Julia war in ungewohntes Schweigen verfallen. Trotz der anbrechenden Dämmerung und des dichten Nebels, der vom Fluss her in die Straßen zog, war das Muster der Stadt gut zu erkennen. Agnes hatte es bereits in Laurenz’ Notizbuch gesehen: Hinter den breiten Stadtmauern durchzog ein Gitternetz gerader, fuhrwerkbreiter Straßen die rechtwinklig angelegte Ortschaft. Nahe beim Marktplatz erhob sich der trutzige Turm einer dreischiffigen Kirche. Ebenso war auch das Rathaus von eher wehrhaftem denn prächtigem Aussehen. Die Häuser entlang der gepflasterten Hauptstraße waren aus rotem Ziegelstein errichtet und mindestens ein, mitunter sogar zwei Stockwerke hoch. Giebel an Giebel reihten sich eng aneinander. Die zusehends prächtigere Ausgestaltung der Gemäuer verriet, dass auch die Elbinger im letzten Jahr das Ordensschloss der Kreuzherren geschleift hatten, um sich Baumaterial für ihre Bürgerhäuser einzuverleiben. Längst waren die Werkstätten geschlossen und die kostbaren Fensterscheiben aus Glas hinter hölzernen Läden verborgen. Aus den Kaminen stiegen Rauchfahnen in den grauen Abendhimmel. Hungrige Hunde und räudige Katzen streunten umher. Unvermutet tauchte ein Buckliger vor dem Fuhrwerk auf, streckte gierig die flache Hand vor und bat um ein Almosen.
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