Gold und Stein
letzten Jahr gestorben noch als Laurenz vor einigen Monaten aufgetaucht war und mit seiner vermeintlich harmlosen Beobachtung den Stein ins Rollen gebracht hatte, hatte Gunda ihr gegenüber ihre Gefühle offenbart. Dennoch wusste sie tief in ihrem Innern, was Gunda für sie empfand. Sie konnte wahrscheinlich nur nicht darüber sprechen. Einst musste ihr Furchtbares zugestoßen sein, was es ihr bis zum jetzigen Tag unmöglich machte, Gefühle zu zeigen. Warum sonst hatte sie sie letztens gemahnt, auf ihr Innerstes zu vertrauen, in sich hineinzuhören, was ihr Herz ihr sagte? Das bedeutete nichts anderes als das, was Caspar von Editha behauptete: Gunda war ihre Mutter!
»Nur mal angenommen«, meldete Caspar sich vorsichtig zu Wort, »du hättest recht und nicht Editha, sondern Gunda wäre unsere Mutter. Weißt du, was mich dann wundert?«
»Was?« Agnes schrak aus ihren Gedanken auf.
»Warum ist sie so ohne weiteres davongegangen? Jede andere Mutter hätte um ihre Kinder gekämpft, hätte sich jedem, der es wagte, sie ihr wegzunehmen oder ihre Mutterschaft in Frage zu stellen, mit aller Kraft widersetzt.« Abermals hielt er inne, kaute auf den Lippen, dachte nach, bevor er leise hinzufügte: »Hätte Gunda nicht wie eine Löwin um uns ringen müssen? Und mir hätte sie zeigen müssen, wie sehr sie sich freut, mich wiederzusehen. Stattdessen hat sie kein Wort an mich gerichtet, geschweige denn, dass sie mir als ihrem lang vermissten Sohn freudig um den Hals gefallen wäre. Lediglich an deine Vernunft hat sie appelliert und dich allein bei uns zurückgelassen. Sollte sie nicht fürchten, dich dadurch erst recht zu verlieren? Verhält sich so eine echte Mutter? Was geht in dieser Frau vor? Verrat es mir!«
Einerseits konnte Agnes ihn verstehen, andererseits fielen ihr Lores Abschiedsworte ein. »Vertrau mir, Lieber: Gunda tut das alles nur aus Liebe. Gerade, weil sie uns aufrichtig liebt, wie nur eine Mutter ihre Kinder liebt, versagt sie sich diesen offenen Kampf. Sie weiß genau, das würde uns alle zu sehr verletzen. Hast du nicht den Blick bemerkt, mit dem sie dich bedacht hat? Noch jetzt wird mir ganz warm ums Herz, wenn ich daran denke. Sie spürt, was Editha dir bedeutet, und will dir nicht weh tun, indem sie deine Liebe zu ihr zerstört. Glaub mir, Gunda ist unsere wahre Mutter, gerade weil sie nicht wie eine Löwin ohne Verstand blindlings angreift und erst einmal großen Schaden anrichtet, sondern mit Bedacht und Liebe handelt.«
Laut schluchzte sie bei ihren eigenen Worten auf. Sie schämte sich, Zweifel an Gunda zugelassen, ihre Liebe in Frage gestellt zu haben. Ab sofort würde sich das ändern. Das war sie nicht nur ihr, sondern auch dem Andenken Lores schuldig. Ergriffen wischte sie sich die feuchten Wangen.
»Was hast du?« Besorgt beugte sich Caspar über ihre Schulter, versuchte, ohne die Zügel loszulassen, ihre Hände zu ergreifen. Der Braune schnaubte entrüstet, geriet aus dem Tritt und stolperte. Gefährlich nah gerieten sie an den Rand der Böschung, die steil zum Fluss abfiel. Es kostete Caspar Mühe, alles wieder ins Lot zu bringen.
»Pass lieber besser auf das Pferd auf!«, rief Agnes, sobald der Braune wieder auf dem Weg zurück war. »Sonst landen wir mit gebrochenem Genick im Graben. Dann sind alle unsere Überlegungen sinnlos, weil wir gar nicht bis zur Marienburg gelangen, um von Laurenz die Wahrheit zu erfahren.«
»Das wäre sehr schade. Übrigens nicht allein in Bezug auf die Frage nach unserer Mutter.«
»So?« Sein neckender Ton ließ sie aufhorchen.
»Hast du etwa schon vergessen, was du mir heute Morgen in Elbing versprochen hast? Du schuldest mir am Ende nämlich noch eine Geschichte.«
»Ach so«, wiegelte sie rasch ab und spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Angestrengt sah sie nach vorn und hoffte, er bemerkte das nicht. »Natürlich erzähle ich dir am Ende auch, warum ich Laurenz bei alledem schon so lange vertraue.«
Im Stillen fügte sie die Hoffnung hinzu, sich angesichts dessen, was die Muhme ihr noch über Laurenz’ Verpflichtungen verraten hatte, nicht in ihm getäuscht zu haben.
6
J e weiter sie ins Landesinnere vordrangen, desto dünner wurde der Nebel, bis er bald gänzlich verschwand. Dunkle Regenwolken dräuten am Himmel, ließen den Tag früh zur Neige gehen. Krähen sammelten sich auf einem abgeernteten Kornfeld, pickten die letzten Körner aus dem Boden, krächzten heiser. Es wurde noch kälter.
»Erreichen wir Marienburg noch vor Anbruch der
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