Gold und Stein
weit entfernt davon, wirklich zu begreifen, was uns in den letzten Tagen widerfahren ist.«
»Genau deshalb sind wir doch jetzt unterwegs«, erwiderte er. »Du willst zu diesem Laurenz, weil du denkst, er könnte uns …«
»Aber das ist es doch nicht allein!«, fiel sie ihm ins Wort und drehte sich über die Schulter zu ihm um. »Es geht nicht allein darum, was Laurenz uns zu sagen hat. Es geht auch darum, wie wir beide damit umgehen. Eben noch waren wir dabei, uns ineinander zu verlieben, und plötzlich stehen wir uns als Bruder und Schwester gegenüber. Ganz zu schweigen davon, dass gleich zwei Frauen unsere Mutter sein wollen.«
»Vergiss nicht Hermine Hundskötter, die ebenfalls ihren Beitrag dazu liefert. So gesehen, sollten wir dankbar sein, dass zumindest unser Vater zweifelsfrei feststeht. Das ist schon ein großer Vorteil in solchen Streitigkeiten.« Er bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln.
»Lass das!«, brauste sie auf. Kaum hatte er es ausgesprochen, stieß ihr die Ungeheuerlichkeit auf: Gunda hatte sie mit ihrem Vater gezeugt, nachdem ihre Verlobung gelöst worden war und Fischart einer anderen die Ehe versprochen hatte! Hatte die Mutter zu diesem Zeitpunkt bereits Kelletats Werben zugestimmt? Hatten ihre leiblichen Eltern also doppelten Treuebruch begangen und dem betrogenen Böttchermeister auch noch eine unrechtmäßige Tochter untergeschoben? Je länger Agnes darüber grübelte, desto milder wurde sie jedoch gestimmt. Die beiden mussten sich sehr geliebt haben. Laurenz kam ihr in den Sinn, die Leidenschaft, die er in ihr entfacht hatte. Um sie zu stillen, war sie bereit gewesen, sämtliche Bedenken fallenzulassen, weil wahre Liebe sie zu ihm hinzog. Gunda musste Ähnliches für Fischart empfunden haben, sonst hätte sie sich ihm trotz der gelösten Verlobung kaum hingegeben.
»Du hast recht«, lenkte sie wesentlich ruhiger ein. »Gewiss ist es sinnvoll, sich in unserem Fall schon an den kleinen Wahrheiten zu erfreuen. Wer weiß, ob wir die große jemals herausfinden? Immerhin ist einer von uns seit Jahren mit einer gewaltigen Lüge aufgewachsen.«
»Einer? So oder so sind wir das beide, ganz gleich, wer von uns von der richtigen Mutter aufgezogen wurde. Jedem von uns wurde etwas Wesentliches verschwiegen.«
»Weißt du, was das Seltsamste daran ist?« Abwartend sah sie ihn an, er aber schüttelte sacht den Kopf. »Wir haben es nicht einmal gespürt! Wahrscheinlich hätten wir nie davon erfahren, wenn nicht …« Mitten im Satz hielt sie inne, plötzlich unsicher, wie sie ihm am geschicktesten von Laurenz’ Auftauchen im Frühjahr in Wehlau berichten sollte, ohne zu viel von ihren Gefühlen zu verraten. »Wenn ich nicht zufällig vor einigen Monaten auf unsere Geschichte gestoßen wäre«, fügte sie schließlich hinzu.
»Eine gute Seite hat die Geschichte jedenfalls«, erklärte Caspar bestimmt. »Ich mag zwar eine Liebe fürs Leben verloren haben, dafür habe ich eine wundervolle Schwester gefunden. Wer weiß, ob diese Art von Liebe nicht weitaus beständiger ist?« Er hauchte ihr von hinten einen scheuen Kuss auf die Wange, um sogleich überzeugt fortzufahren: »Davon abgesehen, weiß ich für meinen Teil noch etwas ganz genau: Was auch immer wir noch herausfinden werden, Editha ist mir stets eine gute, liebevolle Mutter gewesen. Daran wird sich auch dann nichts ändern, falls sich herausstellen sollte, dass sie nicht unsere leibliche Mutter ist.«
Eine Weile ließ Agnes die Worte auf sich wirken. Es war eine beneidenswert eindeutige Liebeserklärung an die Frau, die ihm seit seiner Geburt das gewesen war, was Gunda für sie war: die Mutter. Heftig klopfte ihr Herz, wild wirbelten ihr die Gedanken im Kopf herum.
»Editha liebt mich, wie nur eine Mutter ihr Kind liebt«, setzte er nach, weil er ihr Schweigen wohl falsch verstand. »Daran gibt es für mich nicht den geringsten Zweifel. Immer, wenn ich sie gebraucht habe, war sie für mich da und hat sich um alles gekümmert. Das wird sie auch weiterhin für mich tun, ganz gleich, was da kommen wird.«
»Denkst du, das wäre mit Gunda je anders gewesen?«, brauste sie auf. Zugleich ärgerte sie sich, die Beherrschung verloren zu haben. Lag es daran, dass ihr so manche Ungereimtheit der letzten Jahre in den Sinn kam? Wie oft hatte sie sich danach gesehnt, von Gunda einfach nur in den Arm genommen und geherzt zu werden, eine Träne der Rührung oder des Kummers in ihren Augen zu entdecken. Weder als der gute Zacharias Fröbel im
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