Gold und Stein
angetan wurde. Eines Tages wirst du selbst Kinder haben und begreifen, was es für eine Mutter heißt, wenn ihr eines der Kinder von der Brust gerissen wird. Diesen Schmerz trägt man für immer mit sich. Die Wunde verheilt niemals. Noch dazu, wenn sie einem von einem der liebsten Menschen, den man je gekannt hat, zugefügt wurde. Aber das ist eine andere Geschichte.«
Sie hielt inne, senkte den Blick und schwieg. Agnes wurde unsicher. Es musste Gunda viel Überwindung kosten, derart offen über ihre Gefühle zu sprechen. Die Streicherin tastete nach Gundas Hand und drückte sie. Dankbar lächelte sie die Muhme an. Agnes spürte einen Stich in der Brust. Wie gern wäre sie diejenige, die ihrer Mutter Mut zusprach, doch sie brachte nicht das rechte Wort über die Lippen. Unüberwindbar schob sich die alte Mauer zwischen sie beide. Was gäbe sie darum, sie ein für alle Mal einreißen zu können!
14
N ach einem verlegenen Räuspern setzte Gunda sich aufrecht hin, ließ den Blick über die Runde schweifen. Links von ihr saß Caspar, ihm gegenüber Laurenz, daneben Agnes, und am Kopfende, zu Gundas Rechten, wachte die Muhme über ihre Gäste. Das leise Knistern des Herdfeuers war wohltuend in der angespannten Stille.
»Als die Hundskötterin mich letztens bezichtigt hat, euch beide von Edithas Brust geraubt zu haben, wurde mir klar, dass ich dringend mit Gernot sprechen muss«, begann Gunda zögernd. »Deshalb bin ich ihm nach Memel entgegengereist. Er hat mir dort sein Wort gegeben, vor euch allen die Wahrheit zu bezeugen. Gleich nachher sollten wir zu ihm gehen. Doch lasst mich euch vorher noch die Geschichte von Anfang an erzählen. Vielleicht versteht ihr danach besser, wie Gernot, Editha und ich überhaupt in dieses Unglück stürzen konnten.«
Sie sah erst zu Agnes, dann zu Caspar, schließlich noch einmal zu Agnes. »Vergesst nicht: Was geschehen ist, ist geschehen und bleibt es für alle Ewigkeit. Daran ist nicht zu rütteln. Doch glaubt mir, es ist allein aus Liebe geschehen. Das sage ich im Namen aller Beteiligten. Wenn ihr das im Kopf behaltet, wird es euch besser gelingen, mit allem umzugehen.«
Sie löste ihre Hand aus der der Streicherin und legte beide Hände, die Finger fest ineinander verschlungen, vor sich auf den Tisch. Ohne eines ihrer Kinder direkt anzusehen, sprach sie in festem Ton weiter: »Die Geschichte beginnt vor etwas mehr als achtzehn Jahren in meiner Geburtsstadt Dortmund. Gernot und ich lernten uns damals im Kontor meines Vaters kennen.« Sie lachte kurz auf, berichtigte sich mit strahlenden Augen. »Genau genommen eroberte er mein Herz im Sturm. Auch meine Eltern waren ihm vom ersten Tag an zugetan. Als er um meine Hand anhielt, willigten sie nur zu gern ein. Beglückt reiste Gernot im Frühjahr in seine Heimatstadt Königsberg. Wir folgten ihm nur wenige Wochen später. Mein Vater hatte beschlossen, ebenfalls am Pregel ansässig zu werden. Ich war das einzige Kind meiner Eltern, weitere Familie hatten sie nicht. So wurde meine Brautreise zum Umzug des gesamten Kontors. Demzufolge waren die Fuhrwerke mit unserem gesamten Hausstand vollgepackt.«
Abermals schwieg sie, starrte in das flackernde Talglicht auf dem Tisch, als erblickte sie in der Flamme die Wagen voller Kisten, Säcke und Fässer. Agnes behielt sie aufmerksam im Blick. Dank Lores Schilderungen wusste sie, dass der entscheidende Teil der Erlebnisse bevorstand. Um der Mutter Mut zu machen, strich sie ihr sanft über die Hand. Caspar räusperte sich, fingerte an seinem Gürtel, knüpfte den Lederbeutel ab und legte ihn vor sich auf den Tisch, spielte gedankenverloren mit ihm, bis er Gundas Hand berührte. Auf einen Schlag veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Agnes erschrak: Das Antlitz der Mutter wurde aschfahl, die Lippen waren schmal und blutleer. Ein Zittern erfasste ihren schlanken Körper. »Der Lederbeutel, nehmt den Lederbeutel vom Tisch!«, keuchte sie und fasste sich an die Kehle, als drohte sie zu ersticken.
Entschlossen sprang Agnes auf, fegte den Beutel vom Tisch. Gleich eilte sie zur Mutter, legte ihr beruhigend den Arm um die Schultern, wiegte sie wie ein Kind, bis ihr Atem gleichmäßiger wurde. »Mutter kann den Geruch von Leder nicht ertragen. Wenn sie sich aufregt, ist es besonders schlimm.«
»Das erklärt einiges«, sagte Laurenz. »Nur zu gut erinnere ich mich an jenen Morgen im April auf dem Markt in Wehlau. Auch damals seid Ihr des Leders wegen außer Euch geraten.«
»Offenkundig hängt das mit
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