Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gold

Gold

Titel: Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
Vom Netzwerk:
dass sie schon bei der anderen Hand angelangt war.
    Zoe schloss die Augen und versuchte, sich nur noch auf die Visualisierung des Rennens zu konzentrieren, das sie in nicht einmal vier Stunden gegen Kate fahren würde. Stattdessen sah sie Sophies Gesicht. Etwas, gegen das sie jahrelang angekämpft hatte, rührte sich in ihr. Zuerst war es nur ein kleiner Schmerz, kaum zu unterscheiden von den knisternden Emotionen, die sie heute Morgen nicht klar denken ließen. Sie trat von einem Fuß auf den anderen und ballte die Fäuste, dass sich ihre Fingernägel in die Handflächen gruben, und allmählich wurde der Schmerz größer und zu einer Wunde und dann zu einer furchtbaren Qual, die sie nicht länger unterdrücken konnte.
    Sophie war ihre Tochter, und sie hatte zugelassen, dass man sie ihr wegnahm. Wann immer sich der Gedanke an die Oberfläche geschoben hatte, hatte sie ihn hinuntergedrückt in die kalten Tiefen, in die das Licht nur selten vordrang. Aber sie hatte immer gewusst, dass auch er sie antrieb, dass sie auch deswegen all die Jahre von einer Meisterschaft zur nächsten gerast und mit diesem und jenem Mann ins Bett gestiegen war. Konnte deshalb nichts und niemand die wunde, untröstliche Stelle in ihrem Inneren erreichen?
    Ihr Leben war eine Endlosschleife mit steilen Kurven, in der sie umherraste und nie langsamer wurde. Sie landete nur immer und immer wieder bei sich selbst.
    Sie hatte geglaubt, das Richtige zu tun. Sie hatte nichts für das Kind empfunden und gedacht, es sei am besten, es jemandem zu überlassen, bei dem das anders war. Nun aber konnte sie nur noch daran denken, dass sie das Leben aufgegeben hatte, indem sie Sophie aufgab. Sie ließ die Trauer an die Oberfläche und heulte auf.
    Später, als ihre Tränen versiegt waren, fühlte sie sich kalt und ruhig und klar. Sie ging wieder aufs Dach. Die Sonne schien noch hell, aber der Wind frischte auf, und von den Bergen zogen dunkle Wolken herüber. Sie stützte sich aufs Geländer und kniff die Augen zusammen, damit sie die Straße erkennen konnte, in der die Argalls wohnten – unter einem dieser Dächer saßen sie gerade beim Frühstück.
    Wieder spürte sie den Schmerz, irgendwo zwischen Liebe und Verzweiflung. Der Drang in ihrem Inneren war unbezwingbar. Sie musste Sophie sehen. Sie musste einen klaren Kopf bekommen, damit sie das Rennen fahren konnte, doch zum ersten Mal im Leben wusste sie nicht, ob sie wirklich gewinnen wollte.
    Mums Gold würde mir so viel bedeuten.
    Sie schüttelte heftig den Kopf, wollte den Gedanken loswerden. Sie spuckte über das Geländer und sah den weißen Fleck durch die aufsteigenden Strudel nach unten kreiseln, bis er sich vor dem hellen Mauerwerk verlor.
    Sie erinnerte sich kaum noch, wie sie so hoch hinaufgelangt war, und sah nun, dass der Weg nach unten sehr, sehr lang war.

Waldmond Endor, Territorien am Äußeren Rand, Moddell-Sektor, 43   300 Lichtjahre vom Zentrum der Galaxis, Rasterkoordinaten H-16
7.45 Uhr
    Sophie sah Vaders wirkliches Gesicht zum ersten Mal, als er im Sterben lag. Nachdem sein Geist geschwunden war, hielt sie ihn noch lange in den Armen. Obwohl er ein schlechtes Leben geführt hatte, war er am Ende doch ein guter Vater gewesen. Sie brachte seine Leiche zu einer Lichtung auf dem Waldmond Endor und errichtete einen Scheiterhaufen, um sie zu verbrennen. Als die Flammen emporstiegen, zerfiel der Traum.
    Irgendwo draußen unterhielten sich Mum und Dad.
    Dad fragte: »Bist du bereit fürs Rennen?«
    Mum sagte: »Ich denke schon.«
    Sophie wollte die Augen offen halten, war aber zu schläfrig. Durch die Augenlider sah sie rauchfarbenes Licht. Hörte Mum und Dad, die sich unterhielten. Ihre Brust tat weh.
    »Ich liebe dich«, sagte Mums Stimme.
    »Ich dich auch«, sagte Dads Stimme.
    Sophie lächelte.
    »Wird sie wach?«, fragte Mums Stimme.
    Farben drängten in das Licht. Zuerst Rot, dann Grün, dann Gelb. Sie glühten durch ihre Augenlider. Es war, als würde der Tag nacheinander seine Filzstifte entdecken, hinter der Rückenlehne des Sofas und in der Besteckschublade und wo immer er sie auch gelassen hatte. Ihr Kopf tat wirklich weh. Sie wollte Wasser oder Saft oder so etwas, mit einem Strohhalm. Nur kaltes Wasser oder Saft trinken. Sie war so durstig, sie hätte eine Million Jahre lang trinken können.
    Mum sagte: »Heute Morgen ist Zoe wieder dauernd im Fernsehen. Sie haben uns beide verglichen.«
    »Ja, hab ich gesehen.«
    »Tom hat recht, wir sollten es hinter uns bringen. Wenn sie

Weitere Kostenlose Bücher