Gold
diesem Augenblick und dem furchtbaren Zimmer, in dem er Sophies reglose Hand gehalten hatte. Er war so ängstlich und durcheinander, dass er am liebsten geschrien hätte. So musste sich ein Kampfstier fühlen, der aus zahllosen Wunden blutete. Er wollte etwas zerstören. Er wollte sterben, gleich hier, neben der Bahn. Er wollte, dass die Welt zu Asche verbrannte und alle Menschen verschwanden und die Natur von vorn begann.
Die Kamera an der Seilbrücke näherte sich seinem Gesicht, und er stand auf und begann zu brüllen und mit den Fäusten danach zu schlagen. Er schaute genau in die Linse, um zu zeigen, dass er nicht gebrochen war. Er versuchte, zwei Milliarden Menschen mit seinem Blick zu bezwingen. Dave umfasste seine Schultern und drehte ihn zur Seite.
»Lass es sein, Cassius Clay. Gehen wir.«
»Aber das nächste Rennen …«
Sein Trainer schüttelte den Kopf. »Wir geben auf, alter Freund. Das Ding ist gelaufen.«
Und das war das Ende seiner Olympischen Spiele von Peking. Als sie zur Umkleide gingen, gaben seine Beine unter ihm nach, und er begann zu weinen.
Ein Mann mit einer Steadycam ging rückwärts vor ihm her und hielt jeden einzelnen Augenblick fest. Jack blickte auf, sah ihn und sagte das Einzige, was er jetzt noch sagen konnte, genau in die Kamera.
Er sagte: »Es tut mir leid, Sophie. Es tut mir so leid.«
In der Stille der Küche umarmte er Kate ganz fest.
»Behalte morgen bloß einen klaren Kopf«, sagte er. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Sophie ist auf dem Weg der Besserung, und du bist in der Form deines Lebens. Du brauchst nur noch zu fahren.«
Kate küsste ihn auf die Nasenspitze. »Sport ist so viel einfacher als das Leben, was?«
»Und darum auch viel beliebter.«
Donnerstag, 5. April 2012
Beetham Tower, 301 Deansgate, Manchester 6.53 Uhr
Der Morgen des Rennens war kühl und wolkenlos. Zum ersten Mal, seit Zoe hier eingezogen war, wärmte sie sich auf der Dachterrasse in hundertfünfzig Metern Höhe über dem Straßenverkehr auf, in der strahlend hellen Explosion der aufgehenden Sonne, die Titelmusik von Blade Runner im iPod. Manchmal war das Leben in Ordnung. Ein gewisses Hochgefühl überkam sie, dem sie nicht widerstehen konnte.
Sie hatte ihr Standrad auf der Ostseite der Dachterrasse, gleich neben dem Geländer, platziert. Sie entfernte die Abdeckung, klickte sich in die Pedale und wärmte sich auf, während die Sonne höher stieg. Als ihr Herzschlag stetig und sanft in den 130er-Bereich stieg, überkam sie ein schlichtes Glücksgefühl, das sie förmlich erzittern ließ: Glück über das klare, helle Licht, das ungezähmte Potenzial ihrer Muskeln, den Hauch von nahendem Sommer, den der leichte, kühle Wind von den Pennines herübertrug. Als ihr Herzschlag auf 150 kletterte, war es, als könnte sie sich aus den Pedalen lösen, einfach so über das Geländer steigen und davonfliegen. Es kam ihr vor, als wäre sie nicht schwer genug, um sich zu verletzen.
Das Gefühl machte sie ganz verrückt. Sie verringerte den Widerstand des Rades, trat das Laktat aus ihren Beinen und hielt an. Dann brach sie völlig überraschend in Tränen aus.
Sie wartete, bis sie sich beruhigt hatte, klickte sich aus den Pedalen und kehrte über die kühle Marmortreppe zurück in ihre Wohnung.
Im Wohnzimmer entdeckte sie sich selbst im Fernsehen. In den Morgennachrichten. Eine Psychologin mit goldener Halskette zum limonengrünen Kostüm stimmte dem Moderator zu, dass es besser sei, wenn Kate bei den Olympischen Spielen starten würde.
Der Moderator sagte: »Viele unserer Zuschauer fragen sich, ob es angemessen ist, dass Großbritannien von einer Frau vertreten wird, die aus den falschen Gründen Schlagzeilen macht.«
Die Psychologin erklärte: »Genau das ist die Frage. Mädchen werden von diesen Spielen inspiriert – meine Töchter werden von diesen Spielen inspiriert –, und sie nehmen sich jemanden wie Zoe zum Vorbild. Sie verkörpert für sie eine erfolgreiche Frau.«
Zoe stellte den Ton ab. Sie war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.
Nachdem sie Kaffee getrunken und dreihundert Gramm gedämpften Langkornreis mit Trockenobst gefrühstückt hatte, ging sie unter die Dusche und stellte sich vor, sie hätte sich für ein anderes Leben entschieden. Sie stellte sich vor, sie wäre Sophies Mutter, fütterte sie behutsam, trüge sie wie ein rohes Ei herum, gäbe ihr die ganzen Tabletten in der richtigen Reihenfolge – machte einfach alles, was sie Kate machen sah.
Der eine Arm
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