Gold
ein Dutzend frisch geschnittener Blumen vom Glücklichsein entfernt.
Sie öffnete die Augen und schaute auf das Profil des Mannes. Ihr Lächeln verschwand. Sie las, was er über sie geschrieben hatte, und sah sich die Fotos an, die er von sich gepostet hatte, halb nackt in ihrer Wohnung, mit ihren Goldmedaillen um den Hals. Dann las sie noch einmal, was er geschrieben hatte. Sie sei Wahnsinn im Bett. Aggressiv. Sie müsse immer oben sein.
Zoe rief ihre Agentin an. »Ich glaube, es gibt ein kleines Problem«, sagte sie behutsam.
Nach dem Gespräch legte sie das Telefon neben sich aufs Sofa, lehnte sich zurück und schaute sich in der Wohnung um. Von dem Perrier-Vertrag hatte sie eine Anzahlung von dreißig Prozent auf den Kaufpreis geleistet und eine Hypothek von einer Million Pfund aufgenommen, die sie nur ablösen konnte, wenn sie in vier Monaten in London Gold gewann und einen weiteren Sponsorenvertrag bekam.
Der zusätzliche Druck half ihr, die Schmerzschwelle beim Training zu überschreiten. Man musste erbittert kämpfen – wie damals, als man nichts besaß. Man musste jedes Mal den Einsatz verdoppeln, sonst erlebte man, wie jemand, der noch größere Angst hatte als man selbst, einem davonfuhr.
Sie fand es amüsant, dass sich die Wohnung, die sie gekauft hatte, um sich Angst einzujagen, so sehr um Harmonie bemühte. Die Wände waren mit Farben gestrichen, die das Licht weder reflektierten noch absorbierten. Der Farbton nannte sich Archive. Die hohen Fensterscheiben passten sich den äußeren Lichtverhältnissen an und wirkten beruhigend aufs Auge.
Auf einem niedrigen Couchtisch aus Eisenholz lag die neueste Ausgabe von Marie Claire , von deren Cover Zoe lächelte. Sie blätterte sie durch. Sie war wild entschlossen. Rücksichtslos und unaufhaltsam. Sie wurde von ihren Dämonen getrieben.
Das alles kam ihr fremd vor. Sie schloss die Augen und versuchte, mit Atmen die Panik zu vertreiben, die sich von ihrem Magen aus breitmachte. Sie hörte keine Geräusche, keinen Fernseher in der Nachbarwohnung, nichts. So erhaben über die Welt zu sein – was der Makler als Privatsphäre gepriesen hatte –, erinnerte verdächtig an Einsamkeit. Hoch über der Stadt, aus der sie emporgestiegen war, schien die Stille unwiderruflich.
Sie wusste nicht, was sie sich dabei gedacht hatte. Vielleicht, dass sie ihre Probleme sechsundvierzig Stockwerke weiter unten auf der Erde zurücklassen konnte.
Sie versuchte, sich auf ihren Atem zu konzentrieren. Wünschte sich, Tom wäre hier. Er würde die richtigen Worte finden, um ihr bei diesen Gefühlen zu helfen. Seit sie ihn mit neunzehn kennengelernt hatte, vertraute sie darauf, dass er ihr durch die schwersten Zeiten half. Das Problem war nur, dass die schwersten Zeiten nichts mehr mit den Rennen zu tun hatten. Die Olympia-Teilnahme machte ihr keine Angst; vor die lärmende Menge im Londoner Stadion zu treten, erschien ihr einfach und natürlich und gut. Inzwischen waren es die normalen Dinge, die ihr Angst machten – die immer wiederkehrenden Dienstagvormittage und Mittwochnachmittage des täglichen Lebens, durch die sie ohne Lenker steuern musste. Ohne Fahrrad war sie wie ein Raucher ohne Zigaretten, sie wusste nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte. Sobald sie vom Rad stieg, erwartete man von ihrem Herzen, diese ganzen verwirrenden Sekundärfunktionen zu übernehmen – jemanden zu lieben und etwas zu fühlen und irgendwohin zu gehören –, während sie ihm doch immer nur beigebracht hatte, Blut zu pumpen.
Sie schauderte und griff zum Telefon, um ihn anzurufen. Sie suchte seine Nummer und hielt inne. Sie wusste, dass sie das Problem für Tom formulieren musste, und überlegte, wie sie es diesmal ausdrücken sollte. Vielleicht sollte sie mit einer Frage zu ihrer Ernährung beginnen oder dem Pilates-Training und Tom selbst herausfinden lassen, was mit ihr nicht stimmte. Das war in letzter Zeit ihre Taktik gewesen. Immerhin war sie ein Champion und empfand es als demütigend zu sagen: Bitte hilf mir, ich komme nicht klar.
Sie zögerte und sah hinaus in den grauen Nebel, der die Stadt umhüllte. Ein Olivenbaum schwebte in Zeitlupe am Fenster vorbei und kreiste bei seinem Aufstieg langsam um sich selbst.
203 Barrington Street, Clayton, Manchester
Jack bog in die Straße ein, in der sie wohnten, und fuhr langsam über die Schlaglöcher. Im Rückspiegel behielt er dabei Sophie im Auge. Der Regen hatte nachgelassen, und ein halbes Dutzend Kinder mit Fahrrädern war
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