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Gold

Gold

Titel: Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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stand auf der Tafel. Im rechten Drittel, so groß wie ihr Gesicht, sah man die von Reif überzogenen Olympischen Ringe.
    Sie blickte nach oben, wo gerade noch die orangefarbene Unterseite eines verpackten Baumes in den Wolken verschwand. Der Farbfleck verharrte einen Moment und verschmolz dann mit dem Grau. Zoe verspürte eine Panik, die sie nicht benennen konnte.
    Sie trat mit gesenktem Kopf in die Eingangshalle, eilte über den Marmorboden und fuhr mit dem Aufzug in ihre Wohnung im sechsundvierzigsten Stock. Das Donnern der Stadt blieb hundertfünfzig Meter unter ihr zurück.
    In ihrer Wohnung ließ sie den Schlüssel in eine ausladende Zinnschale fallen, die einzig diesem Zweck diente. Das Klirren war das einzige Geräusch in der Wohnung. Neben der Schale stand eine alte verbeulte Wasserflasche aus Aluminium. Es waren die einzigen Gegenstände auf der schwarzen, hochglanzlackierten Kommode. Sie zog die Turnschuhe aus, stopfte zerknülltes Zeitungspapier hinein, räumte sie ins Regal und streifte die grauen Filzpantoffeln über, die sich noch genau dort befanden, wo sie sie hingestellt hatte.
    Zoe versuchte, sich an den Namen des Mannes zu erinnern, den sie schlafend in ihrem Bett zurückgelassen hatte. Er war süß gewesen. Groß, italienischer Typ, ein paar Jahre jünger als sie. Carlo, so hatte er geheißen, oder Marco. Irgendetwas mit o und einem Grinsen, das besagte, die ganze Sache sei keinesfalls etwas Ernstes. Dennoch, ein bisschen Hoffnung blieb immer.
    »Hallo?«
    Keine Antwort.
    Kein Zettel am Kühlschrank, keine Nachricht auf dem Küchentisch. Sie sah sich im Wohnzimmer um – auch nichts.
    Das Bett war zerwühlt – wie das passiert war, wusste sie noch –, und seine Boxershorts lagen in der Ecke, in die sie sie geworfen hatte. Seine restlichen Kleider waren verschwunden. Ihre vier Goldmedaillen lagen nicht mehr im Regal. Ihr Herz setzte einen Moment aus. Dann sah sie es unter einem der beiden Kopfkissen glitzern, holte die Medaillen hervor und drückte das kalte Metall seufzend an die Brust. Ein Arschloch, das seine Nummer nicht hinterlassen hatte, aber kein Dieb. Vermutlich hatte sie wieder mal Glück gehabt – wenn man es so nennen wollte.
    Stille lag über der Wohnung, vielleicht auch ein geisterhafter Hauch seines Geruchs.
    Sie bereitete sich mit der eingebauten Kaffeemaschine einen Espresso zu und setzte sich auf ein anthrazitgraues Sofa mit niedriger Rückenlehne. Wolken hingen vor den Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten.
    Sie wohnte erst seit einer Woche hier. An den beiden einzigen klaren Tagen hatte sie fünf Kilometer weiter östlich das Nationale Radsportzentrum sehen können, in dem sie trainierte und Wettrennen fuhr. Es hatte ausgesehen wie der gewölbte graue Rücken eines Käfers; als könnte es jederzeit durch den Wildwuchs von Fabrikgebäuden und Logistikzentren, der die Stadt umgab, davonkriechen. Wenn sie mit dem Fernglas, das der Makler ihr dagelassen hatte, zum Horizont blickte, sah sie auch die Snowdonia-Berge, die anglikanische Kathedrale in Liverpool und den Blackpool Tower samt Strand. In der dritten Nacht hatte sie ein Gewitter beobachtet und erlebt, wie der Wind über die Ebene von Cheshire tobte.
    Jetzt war nur Grau zu sehen. Fast kam sie sich vor wie ein Gespenst. Zoe hielt die Hand vors Gesicht und war verwundert, dass sie nicht hindurchsehen konnte. Sie stand auf, ging in die Küche und aß eine trockene Scheibe Mehrkornbrot. Die Konsistenz fühlte sich beruhigend an. Sie trank ein Glas Wasser und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
    Sie fragte sich, ob das jetzt ihr Leben war, ob sie sich bis in alle Ewigkeit allein in diesen designten Räumen bewegen und sie nach den Vorstellungen des Architekten nutzen würde.
    Paolo – so hatte er geheißen. Sie klappte den Laptop auf und suchte ihn bei Facebook. Er sah sogar noch besser aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Eine schöne Nacht war es gewesen. Guter Sex, aber da war noch mehr. Eine Zärtlichkeit – etwas, das sie bewegt hatte. Sie war ein wenig überrascht, dass er keine Nachricht hinterlassen hatte.
    Sie schloss die Augen und gestattete sich die Vorstellung, er komme im Aufzug herauf, in genau diesem Moment, mit Blumen in der Hand. Sie lächelte. Natürlich war es albern, aber man musste glauben, dass so etwas möglich war. Dass es knapp außer Sichtweite wartete und sich jeden Augenblick enthüllen konnte. Es war falsch, Enttäuschungen einfach zu akzeptieren. Man war immer nur ein Klopfen an der Tür und

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