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Gold

Gold

Titel: Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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Auswahl größer. Man konnte widersprechen oder eine freche Antwort geben, dann wirkte man weniger krank. Man konnte etwas zeichnen. Man konnte schnell die Treppe hinauflaufen und viel Krach dabei machen, damit sie es auch hörten, selbst wenn man sich danach zehn Minuten aufs Bett legen musste. Man konnte so tun, als hätte man den ganzen Toast aufgegessen, während man ihn in Wirklichkeit vorn ins T-Shirt steckte und später in der Toilette runterspülte. Man konnte Jungenspiele wie Star Wars machen, in denen es Raumschiffe gab und gekämpft wurde und man stark wirkte, obwohl man nicht mal stark genug war, um Rad zu fahren.
    Nachts war es schwieriger. Wenn man nachts Albträume hatte und Mum oder Dad angelaufen kamen, konnte man ihnen sagen, es wäre um einen Wolf oder einen Räuber gegangen – Dinge, wegen denen gesunde Kinder Albträume hatten – und nicht um den Tod, der einem so große Angst machte, dass man nicht einmal genügend Stimme hatte, um Mum oder Dad zu rufen. Wenn man vom Tod träumte, musste man einfach still sein. In anderen Nächten konnte man sich schlafend stellen, wenn Mum um zehn, um eins und um vier hereinkam, um nach dem Rechten zu sehen. Man konnte seinen iPod-Wecker fünf Minuten vor ihrem stellen und so tun, als schliefe man fest, selbst wenn man die halbe Nacht Star Wars -Comics gelesen hatte.
    Es gab hundert Dinge, mit denen man die Sorgen vertreiben konnte. Man konnte Schuhe oder Zähne putzen oder sich hübsch anziehen, selbst wenn man in Wirklichkeit so müde war, dass man sich am liebsten einfach hingelegt und die Augen zugemacht hätte. Man konnte über die Zukunft sprechen – sie mochten es, wenn man über die Zukunft sprach, solange es die nahe Zukunft war. Wenn man fragte: »Kann ich morgen mit euch einkaufen gehen?«, waren sie glücklich, weil es optimistisch wirkte. Dr. Hewitt nannte es positives Engagement , und es war ein Zeichen dafür, dass man nicht an dem litt, vor dem alle die größte Angst hatten, nämlich an fehlendem Lebenswillen.
    Wenn man also fragte: »Kann ich morgen mit euch einkaufen gehen?«, sagten sie: »Super!« Fragte man aber: »Können wir nächstes Jahr im Urlaub nach Frankreich fahren?«, bekamen sie so einen hohlen Blick und warfen einander Blicke zu und antworteten etwas wie: »Einen Tag nach dem anderen, okay?«
    Es gab auch hundert Dinge, die man einfach lassen musste, damit sie sich keine Sorgen machten. Man durfte nicht husten, es durfte einem nicht schlecht werden, und man durfte nie sagen, man sei müde oder traurig. Wenn es einem wirklich schlecht ging, musste man es irgendwie verbergen, und auch, wenn man wirklich traurig war.
    Es gab so viele Möglichkeiten, um Mum und Dad die Sorge zu nehmen, dass einem für jede einzelne Stunde etwas einfiel. Das Schwierige war nur, dass das alles sehr müde machte, und das durfte man eigentlich niemals sein. Darum musste man sich manchmal ausruhen, so wie jetzt, auf der Toilette, im Dunkeln.
    Nun, da sie sich ausgeruht hatte, griff Sophie nach oben und zog an der Schnur für den Lichtschalter. Der hölzerne Griff war verloren gegangen, und Mum hatte stattdessen eine ihrer Goldmedaillen von den Commonwealth-Spielen daran gebunden. Sie schwang im Licht der nackten Glühlampe hin und her und drehte sich um sich selbst.
    In der Küche erklang Musik. Sophie lächelte. Dad hatte gute Laune. The Jesus & Mary Chain sangen Never understand .
    Dads Musik war Scheiße.
    Durch die Toilettentür konnte sie ihn mitsingen hören. Er hörte sich an wie jeder andere Dad, der ein Lied mitsang. Sophie liebte die Augenblicke, in denen Mum und Dad glücklich waren. Wenn man sich konzentrierte und sie im Gedächtnis anordnete, konnte man sie sammeln wie alte Kupfermünzen oder Kristalle.
    Sophie zog sich am Waschbecken hoch, setzte sich auf die Toilette und pinkelte. Diesmal war ihr Urin von einem hellen Limonengrün. Sie war froh, dass Mum und Dad es nicht sehen konnten, sie würden ausflippen. Sie zog die Spülung und wusch sich sorgfältig die Hände mit dem Stück Seife, das sie aus den Resten der letzten beiden Stücke zusammengefügt hatte. Die Hände trocknete sie an ihrer Jeans ab. Durch die Tür hörte sie ihre Eltern in der Diele lachen. Mum sagte zu Dad, er solle aufhören zu singen.
    Sophie stieg auf den Toilettensitz, um in den Spiegel über dem Waschbecken zu schauen. Sie musste jeden Tag überprüfen, wie sie aussah. Sie machte es hier, damit niemand es mitbekam. Sie zog ihre Star Wars -Baseballkappe aus

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