Gold
der Silberstufe stand, konnte sie nicht mehr aufhören zu weinen.
Es fühlte sich schlimmer an, als Zoe gedacht hatte. Sie waren alle im selben Hotel untergebracht, und sie saß den ganzen Nachmittag auf ihrem Bett, starrte auf die Goldmedaille und hätte sie am liebsten zurückgegeben.
Spät am Nachmittag klopfte Jack an die Tür. Er zitterte. Brachte kein Wort heraus.
Zoes Augen waren rot geweint. »Ist sie noch hier?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie ist nach Hause gefahren.«
»Und du bist noch da?«
»Sie wollte nicht, dass ich mitkomme. Du musst sie anrufen und ihr sagen, dass die Nachricht von dir war.«
»Hat sie dir nicht geglaubt?«
Er schüttelte den Kopf.
Zoe machte eine hilflose Bewegung. »Weshalb sollte sie mir glauben?«
Jack sah sie lange an, und sie merkte, wie sich die Verzweiflung in sein Gesicht stahl, als er begriff, dass sie recht hatte.
»Warum bist du so?«, fragte er schließlich.
Sie begann wieder zu weinen und konnte nicht aufhören. Sie bat ihn nicht, sie zu trösten, und er bot es ihr nicht an.
Sie gingen am Hafen spazieren. Sie sagte, es tue ihr leid; es werde nicht mehr vorkommen. Es war ein kalter, grauer Tag, die großen Wellen, die ans Ufer schlugen, sahen aus wie Geister. Der Wind zerzauste ihr Haar, das deutlich länger geworden war. Die Möwen klangen wie Engel, die keine Arbeit mehr fanden. Die Luft schmeckte nach Salz. Sie warf ihre Goldmedaille ins Hafenbecken. Sie fiel nicht klatschend ins Wasser, sondern verfing sich an einer blauen Taurolle. Das Gold schimmerte dumpf unter der grauen Wasseroberfläche. Sie starrten darauf, aber die Medaille wollte nicht untergehen.
Zwölf Stunden später war Zoe wieder in Manchester und begann sofort mit dem Training für Athen. Es waren keine zwei Jahre mehr, die Arbeit war von neuer Intensität. Mit jedem Meter, den sie ihr Fahrrad über die Bahn trieb, kam sie dem Ruhm näher. Dieses Gefühl von Schicksalhaftigkeit machte sie ganz kribbelig, doch ihr Geist fand keine Ruhe. Erst zwei Wochen später erkannte sie, warum. Sie könnte sich nur dann wieder aufs Training konzentrieren, wenn sie sich bei Kate entschuldigt und mit ihr versöhnt hätte. Es war ein ganz neues Gefühl, zu wissen, dass das eigene Wohlergehen von dem eines anderen Menschen abhing. Eine unerwartete Falle. Während das Gefühl stärker wurde, verlor ihr Körper an Kraft, bis sie kaum noch eine Hantel von der Matte heben konnte. Ihr Unbehagen wuchs, und sie wurde immer wütender auf Kate – begann sie geradezu zu hassen, weil sie sie zu sehr mochte.
Zoe lud Kate zum Mittagessen ein, wenn auch ohne die Absicht, über sich selbst zu sprechen. Sie hatte Kate einfach nur eine Freude machen und sich entschuldigen wollen, doch dann war es passiert, und sie hatte ihr von Adams Tod erzählt und mitten im Lincoln geweint – richtig geweint, die Tränen waren ihr übers Gesicht gelaufen. Kate hatte sie umarmt und der Pianist hatte eine flotte Melodie angestimmt. Er spielte schneller und schneller, als er merkte, dass er sie nicht aufmuntern konnte.
Danach trainierte sie täglich zusammen mit Kate. Ihre Kraft kehrte sofort zurück, und sie war erstaunt, dass Kate ihr den Vorfall in Cardiff verzeihen konnte. Während des Winters fragte Kate ein paarmal, ob sie nicht einen Psychotherapeuten aufsuchen wolle. Zoe stimmte zu – nicht weil sie daran glaubte, sondern weil sie ihre Reue beweisen wollte. Also ging sie einmal in der Woche hin. Kate brachte sie zu den Sitzungen und verabschiedete sich an der Tür mit einem Lächeln, drückte sie aufmunternd. Zoe saß in einem Sessel, da der Therapeut demonstrativ auf eine Couch verzichtete, und beantwortete die knappen, zielgerichteten Fragen, bevor sich der Therapeut in seinem eigenen Sessel zurücklehnte, der so justiert war, dass er von unten zu ihr heraufblickte.
Er verwandelte den Raum in ein lautloses Vakuum, das sie mit Erinnerungen füllen sollte. Als könnte man solche Dinge einfach preisgeben. Als hätten sie ihren Zweck erfüllt, so wie die verbrauchten Teile einer Rakete, und könnten lautlos zurück auf die Erde stürzen. Dabei beschlich sie der Verdacht, dass ihre Erinnerungen mit ihr noch nicht fertig waren; dass der Treibstoff noch nicht verbraucht war; dass sie sie nicht aufgeben konnte, ohne ihre Fluchtmöglichkeiten einzuschränken. Je mehr sie über Adam sprach, desto stärker spürte sie den Sog der Gravitation.
Das Reden machte sie leer und schwach, wenngleich der Therapeut darauf bestand, dass es ihr
Weitere Kostenlose Bücher