Gold
Kraft finden, sich von beidem zu trennen.
Auf dem Rückflug nach London war sie völlig am Ende. Sie hatte nicht geschlafen. Sie saß drei Reihen hinter Kate und Jack am Fenster, die Kapuze ihres Pullovers über dem Kopf, die Arme um die Knie geschlungen. Eine halbe Stunde nach Abflug stand sie auf und ging zu ihnen. Sie wollte sich entschuldigen. Mehr noch, sie sehnte sich verzweifelt danach, mit ihnen zu reden. Tom war wahnsinnig wütend auf sie, und wenn sich jetzt Kate und Jack gegen sie verbündeten, hätte sie niemanden mehr, mit dem sie über die qualvolle Entscheidung, die ihr bevorstand, sprechen konnte. Sie erreichte die Sitzreihe. Die beiden blickten auf, rechneten wohl mit einem Mitglied des Kabinenpersonals, lächelten schon, als wollten sie das Angebot von Kaffee oder Tee höflich ablehnen. Als Zoe den Schock auf ihren Gesichtern sah und Jack verlegen wurde und Kate traurig und verwirrt, murmelte sie nur »Tut mir leid« und eilte zurück zu ihrem Platz.
Auf dem Flughafen warteten Fotografen. Sie trat durch die Zollkontrolle und sah sich einem Meer von Blitzlichtern gegenüber. Jemand im Krankenhaus hatte die Hand aufgehalten und die Nachricht weitergegeben. »Zoe! Zoe! Wirst du das Baby behalten, oder fährst du zur Olympiade?«, hörte sie es hinter der Absperrung rufen.
Nachdem es einmal öffentlich geworden war, blieb ihr keine andere Wahl. Die knochenweiße Erkenntnis war in ihrem Gesicht zu lesen und wurde hundertfach im grellen Blitzlicht festgehalten.
Küche, 203 Barrington Street, Clayton, East Manchester
Nachdem sie gegessen und Sophie ins Bett gebracht hatten, weichte Kate das schmutzige Geschirr ein. Auf der Fensterbank über dem Spülbecken stand der Metallbehälter mit den Spülbürsten und gleich daneben der silberne Pokal, in den Jack am Morgen die sechzehn Tabletten für Sophie abgezählt hatte. Er war leer.
»Es ist nur eine Olympiade«, sagte Kate. »Ich könnte auch verzichten. Mehr Zeit mit Sophie verbringen.«
Sie sah, wie eine blasse vorsichtige Angst in Jacks Augen aufflackerte.
»Hör auf damit. Du wirst mit Zoe um den Platz kämpfen und gewinnen und in London starten. Es war ganz knapp heute.«
Kate schaute aus dem Fenster. »Die Vorstellung, gegen sie zu kämpfen, macht mir Sorgen. Ich glaube, sie wird immer labiler. Sie flippt bald völlig aus.«
»Es geht hier nicht um sie. Denk daran, wie Sophie sich fühlen würde, wenn du zurücktrittst. Wie du dich fühlen würdest.«
»Und was ist mit dir? Wie würdest du dich fühlen?«
»Wenn du zurücktrittst?«
»Ja.«
Sie sah, wie sich sein Gesicht anspannte.
»Ich würde auch zurücktreten.«
Sie nickte. Sie war überzeugt, dass es ihm ernst war, nicht aber, dass er es auch tun würde.
Sie ließ kaltes Wasser laufen und spülte die Reste aus der Auflaufform. Vielleicht ging es ja auf diese Weise zu Ende, im Alter von zweiunddreißig Jahren. Nicht mit einer Niederlage oder einem Triumph auf der Bahn, sondern hier, mit den Trainingssachen im Waschkorb und drei weißen Tellern mit Resten vom Nudelauflauf, die im Becken einweichten, während das Spülmittel dem hartnäckigen Fett zu Leibe rückte.
»Vielleicht brauche ich Zeit zum Nachdenken«, sagte sie.
»Mein Gott«, Jack fasste sich an den Kopf. »Seit wann hat das etwas mit Denken zu tun?«
Und er hatte recht – es war furchtbar, sich selbst so reden zu hören. An der Pinnwand hinter ihnen hingen Bilder, die Sophie gemalt hatte. Lächelnde Sonnen und Raumschiffe. Die Fußabdrücke ihrer Tochter in gelber Plakafarbe, sie bildeten die Blütenblätter einer Sonnenblume. Kate erinnerte sich daran, wie sie Sophies dünnen Knöchel umfasst hatte, um einen Fußabdruck nach dem anderen aufs Papier zu bringen. Mit dem anderen Arm hatte sie Sophie festgehalten, weil sie noch nicht allein stehen konnte. Die dicken Stängel und die breiten Blätter hatte Kate mit einem grünen Wachsmalstift selbst gezeichnet, während Jack im Flugzeug nach Athen saß.
»Aber wenn du schon drüber nachdenken willst«, sagte Jack, »was würdest du nach deinem Rücktritt tun?«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und zuckte zusammen, als die tätowierte Stelle schmerzte.
»Es gibt noch andere Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich meine, falls diese ganzen Pendler nicht nur so tun, als ob, muss es doch noch andere Jobs geben.«
Jack streichelte ihre Wange. »Nein. Nicht, nachdem du einmal die Menge gehört hast.«
Sanft schob sie seine Hand weg. In Wirklichkeit
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