Goldbrokat
mindestens zwei, wenn nicht drei Monate vor Ort zu bleiben, war er nun auf der Suche nach einer günstigeren Unterkunft, vielleicht sogar einem möblierten Appartement oder einer privaten Pension. Er kannte sich aus in der Stadt, seine ersten fünfzehn Jahre hatte er hier gelebt, später hatte er sie aus geschäftlichen Gründen immer mal wieder aufgesucht, das letzte Mal im Sommer vor zwei Jahren.
Seine Schritte lenkten sich wie von selbst in die engen Straßen der Altstadt. Hier herrschte noch immer beklemmende Düsternis zwischen den Fachwerkhäusern. Schreiende Lastenträger und Karrenschieber drängten sich durch die verwinkelten Gassen, fliegende Händler priesen ihre Ware an, Kinder spielten im Schutz der Gossen und magere Katzen jagten die Ratten im feuchten Kehricht. Die alten Häuser, anders als die modernen Bauten, die in den besseren Quartieren entstanden waren, richteten sich noch mit der Giebelseite zur Straße aus, ihre hervorragenden
Dachspeicher sperrten den Himmel aus und ließen das unangenehme Odeur aus Tran, gegerbtem Leder, Unschlitt und Fäkalien nicht entweichen. Aus den Halbkellern klangen die Geräusche der Handwerker. Schrillen und Kreischen, Klopfen, Klirren, Schnalzen und Scheppern ertönte und gab Zeugnis davon, was immer dort geschmiedet, gebohrt, gesägt und gehämmert wurde. Auch diesen höhlenartigen Untergeschossen entstiegen manch unangenehmer Geruch und nicht selten Gezänk und streitende Stimmen in tiefstem Kölner Argot.
Charnay kannte das Umfeld gut genug, um sich an die Lebensumstände hier zu erinnern. In seinen Jugendjahren hatte sein Vater noch in einem der größeren Häuser seinen Seidenhandel geführt, doch während der französischen Herrschaft war das Geschäft zusammengebrochen, und sie mussten in eines der schmalbrüstigen Häuser umziehen.
Just in diesem Augenblick bemerkte er, dass er vor dem ehemaligen Heim stand.
Irgendwann hatte ein Schuster seine Werkstatt darin errichtet, sein Schild hing noch verblasst und abgeblättert über dem Fenster. Das aber war nun mit einigen Brettern zugenagelt worden, die Scheiben im oberen Stockwerk wirkten blind, die Regenrinne hing schief vom Dach, aber über der ebenfalls vernagelten Eingangstür grinste ihn noch immer höhnisch die fratzenhafte Maske des Grinkopfs an. Zehn Jahre hatte er in dem engen, wenig komfortablen Haus zugebracht, während sein Vater als Kommis für einen französischen Händler sein mageres Gehalt verdiente. Er hatte Köln nicht ungern verlassen, als es schließlich hieß, er müsse bei Dufour in die Lehre gehen. Seine Eltern hatte er nie wieder besucht. Sie waren schon vor Jahren verstorben, seine Geschwister hatten Köln verlassen, nur ein Bruder, der nach England gegangen war, lebte noch – oder auch nicht. Kontakt hatte er nicht mehr zu ihm.
Widerwillig, aber getrieben betrat er durch die Toreinfahrt den heruntergekommenen Hinterhof. Auch hier häufte sich Gerümpel in den Ecken, schlammige Pfützen machten das unebene
Pflaster glitschig, zwischen den Fenstern spannten sich schlaffe Leinen mit verschlissener Arbeitskleidung. Ein Bettler kramte in einer Aschentonne und verscheuchte unwillig einen hungrigen Köter, der ihm sein Revier streitig zu machen versuchte. Auch die Hintertür war mit Brettern verrammelt, die Läden waren geschlossen. Angewidert wandte er sich von dem Gebäude ab, Erinnerungen an seine Jugend versuchte er wie üblich zu vermeiden.
Das schlüpfrige Kopfsteinpflaster der ausgetretenen Gassen machte ihm das Gehen in seinen modischen Schuhen beschwerlich, und er war froh, als sich die Enge der Bebauung endlich zu einer weiten Straße öffnete. Die Hohe Straße war eine der belebtesten Durchgangsstraßen Kölns, die Nord-Süd-Verbindung zwischen dem Eigelstein- und dem Severinstor in der Stadtmauer. In der Stadtmitte hatte sich beidseitig eine durchgehende Häuserfront gebildet, die sich aus den Baustilen aller Zeiten zusammensetzte. Hinter blinkenden Fensterfronten präsentierte man Luxuswaren, Modeartikel, Jagdausrüstungen, Porzellan oder Schmuck. Buchhändler, Coiffeure, Modistinnen und Hutmacherinnen boten ihre Erzeugnisse und Dienstleistungen feil, Caféhäuser, Braustuben und Restaurants luden die Flaneure zur Erquickung ein.
Charnay ignorierte indes das Angebot. Er war auf der Suche nach einer Unterkunft, und somit bog er, als er den Dom erreicht hatte, in die Komödienstraße ein. Die Lage hätte ihm gefallen, nahe genug an der Stadtmitte, die bekannte Gaststätte
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