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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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sich zu der schimmernden Frau hin. Philipp folgte ihr, und ganz, ganz vorsichtig, auf Händen und Füßen, tastend und jede Stufe einzeln erfühlend erklommen sie die Stiege.
    Sie waren eben auf dem oberen Absatz angelangt, als die ganze Konstruktion mit einem Krachen unter ihnen zusammenbrach.
    »Ach du lieber Gott!«, entfuhr es Philipp. Laura schnaufte nur entsetzt und kroch näher an die Wand.
    Die Erscheinung war verschwunden.
    Im Dunkeln betastete sie den zerbröselnden Putz. Sie stieß auf Holz, zog sich einen Splitter in den Finger und gab einen kleinen Schmerzlaut von sich. Dann aber erkannte sie, was sie gespürt hatte, und drückte dagegen.
    Knarrend öffnete sich die Tür, und helles Mondlicht erfüllte den oberen Bereich des Hauses.
    »Vorsicht!«, mahnte ihr Bruder sie, aber sie war schon aufgestanden und hatte den Raum betreten. Eine kleine Kammer, staubig, mit ganzen Girlanden von Spinnenweben, die von der Decke rankten – ein paar alte, leere Fässer zeugten davon, dass das Haus einmal als Lager für irgendwelche Waren gedient hatte -, aber mit einem Fenster, durch dessen runde Butzenscheiben der volle Mond schien.
    Sie traten beide näher und starrten hinaus. Dann probierte Philipp, ob sich der Riegel bewegen ließ, und mit einigem Krafteinsatz gelang es ihm, die beiden Fensterflügel zu öffnen. Er streckte den Kopf hinaus, musterte eine Weile die Umgebung und zog ihn dann wieder zurück.
    »Und? Was ist?«
    »Ziemlich hoch, aber es geht nicht zum Hof raus, sondern da unten fängt eine Weide an. Trotzdem, springen können wir nicht. Da brechen wir uns alle Knochen. Wir bräuchten ein Seil.«
    »Haben wir aber nicht.«

    »Nein. Aber vielleicht hört uns jemand, wenn wir laut rufen.«
    »Die schlafenden Kühe, ja.«
    Immerhin hatte sich ihre Lage so weit verbessert, dass sie ihre Umgebung wahrnehmen konnten. Während Philipp die alten Fässer inspizierte, schaute Laura sinnend aus dem Fenster. Der Mond war auf seiner Bahn ein ganzes Stück weiter nach Westen gewandert und schien nun mit seinem silbernen Schein in die kleine Stube. Draußen war es vollkommen still, Köln lag im tiefsten Schlaf. Die Kühe auf der Weide wirkten wie dunkle, unbewegliche Haufen, die vereinzelten Obstbäume ragten schwarz gegen den sternenbesäten Himmel auf. Eine Sternschnuppe huschte zwischen einigen Wölkchen durch, bildete einen glühenden Schweif und verlosch. Flugs erinnerte sich Laura daran, dass man sich etwas wünschen durfte, wenn man einen fallenden Stern entdeckte, und da sie ein kluges Mädchen war, erbat sie sich eine Idee, wie man am besten und schnellsten aus dem Haus kam.
    Ihr Vertrauen in die Wunder hatte durch die freundliche Erscheinung, die sie nach oben geleitet hatte, neue Nahrung bekommen. So setzte sie sich nach einer Weile auf eines der Fässer und faltete die Hände im Schoß. Ihre weiten Unterröcke bauschten sich um sie, und plötzlich erinnerte sie sich an die kleine Schere in ihrer Rocktasche. Ähnlich wie ihr Bruder sammelte sie allerlei Nützliches darin, nicht nur reine Taschentücher, auch ein Glimmerstein, eine hübsche Feder, ein Stück rotes Geschenkband und zwei klebrige Kamellen fanden sich derzeit darin.
    Diese Notration aber ignorierte sie, sondern fischte das Handarbeitsscherchen heraus, das ihr oft dazu diente, ein paar Blumen abzuschneiden oder kleine Scherenschnitte zu machen.
    Diesmal aber erwies es sich als äußerst nützlich, eine lange Naht aufzutrennen.
    »Was machst du denn da?«
    »Ein Seil.«

    »Du spinnst doch, Laura. Du kannst doch nicht deinen Unterrock auftrennen.«
    »Doch, geht ganz einfach. Die Volants hat Mama mit der Maschine genäht, die kriegt man ganz leicht ab. Und dann knoten wir die Bahnen zusammen und hängen den Stoff aus dem Fenster. Daran können wir uns runterlassen. Weißt du, wie die Gefangenen es machen.« Sie sah ihn lobheischend an. »Das ist nämlich gutes, starkes Leinen. Das reißt nicht.«
    »Das ist doch dummes Zeug. Hier gibt es doch nichts, woran wir das festbinden können.«
    »Ach Philipp, dann denk du einfach mal darüber nach. Ich mach mit dem Rock weiter.«
     
    Philipp grollte einen Moment, erst weil sie ihn so herablassend behandelt hatte, dann weil er nicht selbst den genialen Einfall gehabt hatte. Schließlich aber beendete er das Grollen und dachte tatsächlich nach. Dazu setzte er sich auf ein Fass und schloss die Augen.
    Wenn es ein Fensterkreuz gäbe … Gab’s aber nicht. Oder eine schwere Truhe … Einen Bettpfosten

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