Goldbrokat
der Ferdi. Dieser Mistkerl!«
Ganz langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis, und Philipp konnte sich an den schmalen, matten Lichtstreifen orientieren, die durch die Ritzen der vernagelten Fenster fielen.
»Was machen wir denn nun, Philipp?«
Laura hörte sich jämmerlich an, und er tastete nach ihrer Hand.
»Wir setzen uns in eine Ecke und warten, bis es draußen richtig hell wird. Dann können wir bestimmt ein bisschen mehr sehen. Und dann rufen wir um Hilfe.«
»Ich weiß nicht. Ich glaub nicht, dass uns hier wer hört.«
Er glaubte es eigentlich auch nicht, aber eine bessere Ausrede fiel ihm eben nicht ein. Man musste nachdenken. Probehalber rüttelte er auch noch mal an den Planken vor dem Fenster, aber da hatte jemand solide Arbeit geleistet. Nichts bewegte sich da.
Aneinandergekuschelt hockten sie sich in die hinterste Ecke.
»Hannah wird uns vermissen«, sagte er nach einer Weile. »Sie wird uns suchen.«
»Mhm. Aber wo?«
Philipp seufzte. Ja, wo wohl? Sie würde zu Mama laufen. Aber die wüsste ja auch nichts.Warum hatten sie bloß niemandem etwas gesagt? Aber jetzt war es zu spät, darüber zu greinen.Vielleicht fanden sie, wenn die Sonne aufgegangen war, irgendwas in dem Raum, womit man die Fenster aufstemmen konnte. Oder Ferdi kam und machte den Riegel vor der Tür wieder auf. Er wollte bestimmt nur, dass sie ein paar Stunden Angst hatten. Der Lumpenkerl, der! Sogar einen Groschen hatte er sich für diesen Streich bezahlen lassen!
»Wir müssen einfach warten, Laura.« Er legte tröstend den Arm um sie, und sie drückte sich an ihn. Aber sie weinte nicht. Obwohl sie ein Mädchen war.
»Wir könnten beten, Philipp. Madame Mira sagt doch, dass über Kinder ein Schutzengel wacht«, schlug sie plötzlich vor.
»Madame Mira ist eine Katholische, die glaubt an so etwas.«
»Ja und? Nona glaubt das auch. Die hat zu der Madonna gebetet, als wir mit ihr zur Messe gegangen sind. Sie hat gesagt, wenn man in Not ist, hilft die Maria den Menschen.«
Philipp war skeptisch. In guter protestantischer Tradition hegte er ein tiefes Misstrauen gegenüber allen Heiligen und Engeln und sonstigen himmlischen Heerscharen. Andererseits – na ja, der liebe Gott könnte natürlich auch mal hinhören. Sie beteten ja schließlich jeden Abend vor dem Zubettgehen, dass er sie und ihre Familie und Freunde beschützen möge.
Vielleicht war das doch keine so ganz dumme Idee.
Zumal man ja nichts anderes machen konnte.
»Gut, dann beten wir eben.«
»Mhm.«
Sie taten es schweigend, ein jeder zu dem Wesen, zu dem sie das höchsteVertrauen hatten. Und dann saßen sie beide, erschöpft von der Aufregung, im Dunkeln und dösten allmählich ein.
Laura erwachte. Oder vielleicht auch nicht, jedenfalls hatte sie plötzlich den Eindruck, dass sich etwas verändert hatte. War da nicht ein seltsamer Schimmer? Schwebte da nicht irgendetwas die Treppe hinunter? Sie fühlte in sich. Eigentlich müsste sie Angst verspüren, aber da war nichts, nur milde Neugier. Sie rieb sich die Augen, um klarer erkennen zu können, was da auf sie zukam. Es sah aus – ja, es sah aus wie eine Frau in einem langen, grauen Gewand. So wie eine Nonne vielleicht. Sie hatte nämlich einen weißen Schleier auf dem Kopf. Und der saß wenigstens noch auf ihren Schultern. Ferdi hatte gesagt, eine graue Frau ginge hier um. Und das sei ganz furchtbar gruselig. Aber das war es gar nicht, denn jetzt erkannte sie auch das Gesicht unter dem Schleier. Ein liebes Gesicht, es lächelte. Dann machte die Gestalt eine Bewegung mit dem Arm. Sie wies auf die Treppe. Ja, tatsächlich, sie wies auf die Treppe. Oder?
Laura löste sich aus ihrer erstarrten Haltung und stupste Philipp an.
»Du, sieh mal«, flüsterte sie eindringlich, weil sie befürchtete, die Erscheinung könne sich durch ihre Worte auflösen. Aber das tat sie nicht.
Ihr Bruder schreckte auf, und sie merkte, dass auch er sich die Augen wischte.
»Ich seh nichts.«
»Doch, da ist eine Frau. Sie will, dass wir da hochgehen«, wisperte sie ganz leise.
»Die Treppe ist morsch.«
»Ja, aber …«
Die Gestalt bewegte sich auf die Treppe zu, deutete auf zwei der Stufen und hob warnend den Finger. Dann stieg sie die anderen empor.
»Sie ist aber da, und sie zeigt auf die Stufen. Ich folge ihr, Philipp.«
»Das ist verrückt.«
»Ja, aber ich habe zu Mutter Maria gebetet, Philipp.Vielleicht ist sie das.«
»Da ist aber nichts«, beharrte er. Doch Laura war schon aufgestanden und bewegte
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