Goldbrokat
entstand. Die alte Baumschule war zu einem kleinen Hain herangewachsen, die Rosenzucht zu einem duftenden Paradies mit Laubengängen und Rondellen; die weiten Rasenflächen aber luden dazu ein, Drachen steigen zu lassen. Diese neue Beschäftigung verdankten sie Philipps Kenntnissen, die er aus seiner Schule mitgebracht hatte. Ein Klassenkamerad hatte ihnen gezeigt, wie man aus dünnen Holzstäben, buntem Papier, Leim und etlichen Schnüren ein solches Fluggerät basteln konnte. Sie hatten sich sogleich mit Feuereifer an diese Arbeit gemacht und nach einigen Fehlschlägen gut funktionierende Drachen hergestellt. Besonders stolz war Laura darauf, dass sie statt des leicht reißenden Papiers die dünne Seide zur Bespannung genommen hatten, die sie Mama abgeschmeichelt hatten. So besaß Philipp
jetzt einen leuchtend roten Drachen mit gelben und orangefarbenen Bändern, die hinter ihm herflatterten. Für den ihren aber hatte sie weiße Seide gewählt und ihn mit einem blau und grün gefiederten Vogel bemalt.
Wie üblich hatte Hannah ihnen die Mahnung mitgegeben, sich ja nicht von Fremden, gleichgültig ob Mann oder Frau, Junge oder Mädchen, ansprechen zu lassen, und eigentlich hätten sie auch immer in Sichtweite bleiben sollen, aber das war nun mal einfach nicht zu machen, wenn der Wind in den Leinen zerrte und die Drachen über die Wiese zog. Es war wirklich ein bisschen lästig, dass Mama plötzlich so ein Angsthase geworden war. Schließlich war doch nichts passiert, damals in dem Spukhaus. Und natürlich würden sie sich zu solch einem nächtlichen Ausflug nie wieder überreden lassen.
Hannah sah es ähnlich wie sie. Wahrscheinlich, weil sie lieber mit den anderen Frauen klatschte, die sich regelmäßig in der Grünanlage einfanden, als ständig hinter ihnen herzulaufen.
Dieser Oktobertag war aber auch gar zu prächtig. Die Sonne schien, der Wind stand gerade richtig, war nicht zu heftig, nicht zu flau, wehte stetig und ohne Böen. Andere Knaben ließen ebenfalls ihre Drachen steigen, und Laura war insgeheim stolz darauf, dass sie als einziges Mädchen weit geschickter darin war, ihren Drachen zu steuern und Kurven fliegen zu lassen, als die Jungen. Sogar besser als Philipp, um das mal klarzustellen. Nur sagen würde sie ihm das natürlich nicht.
Bald zwanzig bunte Flieger tänzelten am blauen Himmel, mit flatternden Bändern und bunten Schweifen. Einer unter ihnen war aber besonders schön und wendig. Laura kniff die Augen zusammen, um gegen die Helligkeit zu erkennen, was auf ihn gemalt war. Ein Vogel, wie bei dem Ihren? Nein, eher eine Fledermaus, oder? Neiiin! Jetzt kam er runter und näher. Das war ja ein richtiger Drache.
»Philipp!!!«
Ihr Bruder drehte sich um, und sie wedelte mit einer Hand, um ihn auf das phantastische Tier aufmerksam zu machen, das
sich jetzt wieder aufschwang und in einer grandiosen Achterschleife zu Philipp herabstieß.
»Ha!«, rief der und zupfte an seinem Lenkseil. Sein roter Drachen vollführte ebenfalls ein waghalsiges Manöver und verfolgte den anderen. Das war ja ein Spaß. Auch Laura ließ ihren Vogel tanzen und versuchte dem Drachen an den Schwanz zu kommen. Der erwies sich aber als ausgesprochen geschickt, und das spannende Spiel nahm ihnen beinahe den Atem. Es galt zu rennen, zu ziehen, ganz fix zu sein, anderen auszuweichen und bloß nicht in die Nähe der Bäume zu geraten. Dabei gab es überhaupt keine Möglichkeit, herauszufinden, wer den Angreifer in den Händen hielt. Und es blieb ihnen auch gar keine Zeit, darauf zu achten, wie weit sie sich von Hannah und der Parkbank entfernten.
Aber dann passierte das Unglück.
Laura, die gerade eben noch ihren Vogel dem Drachen entwischen lassen konnte, blieb an einer dornigen Rosenranke hängen. Wollte sie sich nicht das Kleid zerreißen, musste sie innehalten und sich befreien. Dabei verlor sie die Kontrolle über die Seile, und ihr schöner Flieger stürzte kopfüber zu Boden. In einem Busch blieb er hängen, die bunten Bänder fesselten ihn an die Zweige.
Endlich hatte sie die Rüschen am Saum von den Dornen befreit und wollte zu ihrem Drachen laufen, da kam auch schon ein Herr mit ihrem traurigen Vogel in der Hand auf sie zu. Ein komischer Herr, oder besser: ein Herr in einem komischen Anzug. Er trug nämlich ein langes, graues Hemd über weiten Hosen. Und so wie es schimmerte, musste es Seide sein. Seine Haare waren schwarz und lockig, sein Gesicht braungebrannt und glattrasiert. Und in der anderen Hand hielt er die
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