Goldbrokat
wieder aufmerksam lauschte, ob mein Peiniger nicht zurückkam, gelang es mir, das Band zu zerschneiden, mit dem meine Handgelenke zusammengebunden waren.
Meine Erleichterung war unermesslich. Den Knebel hatte ich schnell gelöst, und endlich fiel mir Atmen und Schlucken wieder leichter, obwohl ich einen völlig ausgetrockneten Mund hatte. Ich ruhte mich eine Weile von der Anstrengung aus, dann machte ich mich an die Erkundung des Raumes. Endlich konnte ich mit meinen Händen die Wände abtasten. Ich fand die Tür auf der einen Seite, die Fensterluke auf
der anderen Seite. Es war kein Glas davor, oder besser, nur noch die Reste einer zersplitterten Scheibe, an der ich mich auch prompt verletzte. Aber dann ertastete ich ein Stück Holz, vielleicht der abgebrochene Stiel eines Hammers oder einer Axt, und damit gelang es mir unter Aufbietung aller Kräfte, das Hindernis draußen vor dem Fenster ein Stück zur Seite zu schieben.
Noch eine Erleichterung mehr. Auf diese Weise hatte ich ein winziges bisschen Licht.
Nicht viel, denn augenscheinlich war es Abend oder Nacht geworden.
Ich setzte mich wieder neben das Fass, das mir schon beinahe zum Freund geworden war, und lehnte meinen Kopf an die Rundung.
Und nun?
Und nun musste ich mich für einen neuen Besuch Charnays wappnen. Wenn er in dieser Nacht noch seinen Spaß mit mir haben wollte, sollte ich mir etwas einfallen lassen. Ich durchsuchte meine Rocktasche noch einmal, aber außer einem Tuch, einer Rolle Nähseide mit eingesteckter Nadel und einem Fingerhut fand sich nichts, was mir als Waffe dienen konnte. Immerhin, ich hatte die Schere und den Holzknüttel. Und er würde nicht erwarten, mit Schlag und Stich empfangen zu werden.
Ein Auge würde ich ihm mindestens ausstechen!
Diese Aussicht richtete mich merklich auf.
Aber es wurde dunkler und dunkler, und offensichtlich sollte ich diesmal noch verschont werden.
Die Erschöpfung übermannte mich schließlich, und ich nickte für eine Weile ein.
Tief war mein Schlaf nicht, ich schreckte auf, als das Pelzige über meinen Arm krabbelte. Danach fuhren meine Gedanken wieder Karussell. Ich hatte nicht die Kraft, mich dagegen zu wehren. Ich ließ sie wandern, und nur wenn die Szenarien zu bedrohlich wurden, versuchte ich, ihnen Einhalt zu gebieten.
Dann aber gelang mir etwas Erstaunliches. Ich sah mich plötzlich wieder mit Drago im Speisesaal des Domhotels sitzen, verletzt und unglücklich über die Erkenntnis, dass auch ich, wie seine chinesische Geliebte, nur ein hübsches Spielzeug für ihn gewesen war. Aus meinem Jammertal hatte er mich mit der Beschreibung paradiesischer Gärten herausgelockt, und diese Bilder entstanden jetzt wieder vor meinen Augen. Die goldenen Chrysanthemen, die sich in einem stillen Wasser spiegelten, die knorrigen Gehölze, von Menschenhand der Natur nachgeformt, die roten, runden Lampions, die von den geschwungenen Dächern der Pagoden hingen und sich im Wind wiegten, der raschelnde Bambus am Ufer der Lotusteiche.
Wie gerne würde ich über die geschwungenen Brücken wandeln und dem wehmütigen Klang einer Rohrflöte lauschen.
Drago liebte China, und es hatte ihn verändert. Er war stärker geworden, ruhte mehr in sich, und – ja – er war auch feinfühliger geworden.Wie er mit Laura und Philipp umgegangen war, hatte mich beeindruckt. Mit einer Leichtigkeit ohnegleichen hatte er ihre Herzen, ihr Vertrauen erobert. Sie beteten ihn an, kaum dass sie ihn ein paar Stunden kannten. Und ich war mir fast sicher, dass er ihr Vertrauen nicht missbrauchen würde.
Was mich zu dem seltsamen Schluss brachte, dass er möglicherweise auch mir gegenüber aufrichtig sein könnte.
Was aber verlangte er von mir? Wenn er denn wirklich die Zuneigung der Kinder erringen wollte, würde er sie mir dann tatsächlich fortnehmen? Würden Laura und Philipp mich verlassen, um Abenteuer an seiner Seite zu erleben? Würde er mir diese Wunde zufügen?
Sah ich wieder nur meine verletzten Gefühle?
Mein Magen zog sich plötzlich zusammen. Nicht, weil ich hungrig war, sondern weil mir etwas einfiel.
Damals, es war um die Weihnachtszeit, kam der Brief aus China, in dem Drago von Servatius’ Tod und den testamentarischen Bedingungen erfuhr. Er war einige Tage sehr wortkarg
gewesen. Ich hatte es wenig beachtet, denn Laura war ein sehr hungriges Kind, Philipp kämpfte mit einem Backenzahn, der gerade durchbrechen wollte, und war ständig quengelig, meine Eltern hatten uns mitgeteilt, dass sie sich außerstande
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