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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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tiefsten und größten Gefühle.
    Drago hatte sie kaum gekannt, aber sie hatte Ariane geholfen, so wie Servatius ihm einst geholfen hatte. Ariane würde ebenfalls um sie weinen.
    Ariane!
    Hier würde er keine Hinweise finden.

Wanderung im Dunkeln
    Hanshan – so finster und geheimnisvoll,
Wer ihn besteigt, tut es in Ärger und Schrecken.
Im Mondlicht tiefer Wasser Glitzerglanz
Wind fährt durch die Gräser rischelraschel.
Schneeblüten trägt der dürre Pflaumenbaum,
Wolken statt Blattwerk in den kahlen Wipfeln.
Ein Schauer wandelt alles wie mit Geisterhand,
Den Aufstieg schaffst du nur bei klarem Himmel.
     
    Hanshan, Gedichte vom Kalten Berg
    Ich hatte jegliches Zeitempfinden verloren. Am Vormittag hatte Charnay mich verschleppt, wie lange ich bewusstlos gewesen war, konnte ich nicht einschätzen. Dann war er gekommen und hatte mich gezwungen, Gernot den Brief zu schreiben. Immerhin war es mir gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass mein Verlobter eine gewisse Zeit benötigen würde, um das Geld aufzutreiben. Statt den nächsten Morgen hatte er also den Nachmittag als Termin angegeben.
    Er hatte es mit einem bösen Glitzern in den Augen getan und dem Hinweis, dass ich diesen Aufschub genau wie er genießen würde.
    Schwein!
    Danach hatte er mir wieder die Hände gefesselt, den Mund mit einem Seidentuch geknebelt und mich in der Finsternis alleine gelassen.
    Er war verrückt. Und in seinem Wahnsinn lag sowohl Hoffnung als auch Bedrohung.

    Denn eines wusste er offensichtlich nicht – dass Drago ebenfalls in der Nähe war.
    Ich versuchte daraus einen Trost zu schöpfen, um nicht vor Verzweiflung ebenfalls den Verstand zu verlieren. Gut, gestern Abend hatte er mich zusammengestaucht und mir vorgeworfen, nur meine eigenen verletzten Gefühle zu sehen, nicht aber LouLous oder Gernots. Dasselbe hatte mir LouLou kurz zuvor ebenfalls unter die Nase gerieben. Es musste also etwas dran sein, wenn man mich so einschätzte.
    Aber wie konnte ich denn wissen, dass hinter der kühlen Fassade tiefe Liebe entbrannt war?
    Vielleicht fehlte mir ein Sinnesorgan, ein Ohr für Zwischentöne, ein Auge für feinere Schattierungen. Hatte ich eine Hornhaut, die es mir unmöglich machte, zarte Strukturen zu erfühlen?
    Irgendwas Pelziges krabbelte unter meinen Rock, und mit einer heftigen Bewegung verscheuchte ich es. Meine körperlichen Missempfindungen waren sowieso schon kaum noch zu ertragen. Obwohl mein Schädel brummte, bemühte ich mich wieder, mein Gedankenspiel aufzunehmen, um mich von dem restlichen Ungemach abzulenken.
    Gernot würde zahlen, dessen war ich mir fast sicher. Selbst wenn er keine wirklich tiefe Liebe für mich empfand, würde er mich nicht in der Macht eines Verbrechers lassen. Aber würde Charnay mich ungeschoren freilassen? Nie und nimmer – ich kannte ja seine Identität. Mir standen also Qual, Folter, Vergewaltigung und Tod bevor.
    Übelkeit würgte mich bei der Vorstellung, und nur mit äußerster Kraft gelang es mir, mich einer anderen Frage zu widmen.
    Würde Drago mein Verschwinden richtig deuten? Wann würde er es überhaupt bemerken?
    Die Panik wollte schon wieder die Oberhand gewinnen.
    Denk an die guten Möglichkeiten, Ariane, befahl ich mir. Meine Kinder würden mich vermissen – morgen. Mittwochnachmittags
kamen sie gewöhnlich zu mir.Vielleicht gingen sie zu Drago ins Hotel, wenn sie im Atelier keinen Einlass fanden.
    Das war ein hilfreicher Gedankengang. Ich verfolgte ihn weiter.
    Wie tapfer die beiden sich verhalten hatten, als sie in dem Spukhaus eingesperrt waren. Gleichgültig, ob ihnen da nun wirklich Gespenster erschienen waren oder sie einfach nur nützliche Einfälle hatten, die ihnen halfen, sich aus eigener Kraft zu befreien.
    Warum hatte ich eigentlich keine?
    Gut, aus einem Kellergelass konnte man sich nicht abseilen. Und gefesselt waren die beiden auch nicht gewesen. Aber …
    Wie konnte ich das vergessen?
    Genau wie meine kluge Tochter hatte auch ich in der Tasche meines Rocks immer allerlei Krimskrams stecken. Unter anderem eine kleine Schere.
    Es war eine schmerzhafte Aufgabe, denn mir tat die Schulter weh, und die Verrenkungen, die ich machen musste, um mit den gefesselten Händen an die Tasche heranzukommen, taten höllisch weh. Aber ich hatte eine Aufgabe, ein Ziel.
    Nach etlichem Gerangel mit meinen Kleidern hatte ich es endlich geschafft, das spitze Handarbeitsscherchen in die Finger zu bekommen, und nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen, während denen ich immer

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