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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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hätte.
    Ich hatte – und viel zu gut erinnerte ich mich daran, vor allem, wenn ich meinen feixenden Sohn betrachtete.
    »Also gut, ich habe. Beinahe wenigstens«, begann ich.Warum sollte ich ihnen diese Geschichte vorenthalten, nur weil sie bei mir schmerzliche Erinnerungen weckte? »Als ich noch sehr jung war und mich gerade mit eurem Vater verlobt hatte, unternahmen wir an einem schönen, warmen Herbsttag mit einem Wagen eine Spazierfahrt übers Land. Wir hatten einen Picknickkorb dabei und fanden einen schönen Platz an einem stillen See. Es war ein sehr vergnüglicher Nachmittag, und die Zeit verflog so rasch, dass wir nicht bemerkten, wie eine schwarze Gewitterwolke aufzog. Es war schon fast zu spät, bis wir alles zusammengeräumt hatten. Die Tischdecke, auf die wir unsere Teller und den Korb gestellt hatten, wurde uns sogar von einer heftigen Böe entrissen. Das Pferdchen war unruhig, und kaum hatten wir uns in Bewegung gesetzt, brach das Donnerwetter auch schon los. Wir wurden klatschnass, mir flog der Hut vom Kopf, und als ein Blitz ganz in unserer Nähe in einen Baum einschlug, ging das arme Pferdchen vor lauter Angst durch.Als euer Vater das Tier endlich beruhigt hatte, wussten wir nicht mehr, wo wir uns befanden. Da sahen wir im Aufleuchten eines gewaltigen
Blitzes ein verfallenes Haus in der Nähe aufragen, und er lenkte den Wagen dorthin. Es war nicht mehr als eine Ruine aus Feldsteinen, das Dach war schon lange eingestürzt, Türen und Fenster hohle Löcher, aber drinnen waren wir wenigstens vor dem Sturm und etwas vor dem peitschenden Regen sicher. Aber es war ganz schön gruselig in dem Gemäuer.«
    Die Augen meiner Kinder glänzten vor Vergnügen und Spannung, darum trug ich noch ein bisschen dicker auf und schilderte die schaurige Nacht, in der ich mich ängstlich in die Arme meines Verlobten geflüchtet hatte, der selbstverständlich mannhaft dem Grauen trotzte. Hatte er ja auch wirklich getan, nur die Art und Weise, wie er mich beschützte, war für Kinderohren nicht unbedingt geeignet.
    »Das Gewitter verzog sich allmählich, es tröpfelte nur noch, aber inzwischen war es schuckeschwarze Nacht geworden, und außer dem sich entfernenden Donnergrummeln war alles rundum ganz still. Wir flüsterten nur noch, um die Ruhe nach dem Sturm nicht zu entweihen, und daher hörte ich plötzlich diesen schaurigen Laut. Es klang, als ob ein Wesen hoch aus den Lüften nach uns rief. Hohl und wehklagend hallte die Stimme über die Felder. Ich sage euch, mir klapperten förmlich die Zähne. Immer näher kam das Rufen, immer eindringlicher wurde es. Und dann...« Ich nahm mir einen Keks, um mich zu stärken, und einen Schluck Tee, um ihn hinunterzuspülen, während Laura und Philipp ungeduldig mit den Füßen scharrten.
    »Und dann, Mama?«
    »Und dann erfüllte ein unheimliches Rauschen das alte Haus, und eine weiße Gestalt landete auf dem verfallenen Giebel. Mit glühenden Augen blickte das Wesen zu uns herab, der gehörnte Kopf drehte sich fast einmal um den ganzen Hals, und es ließ noch einmal sein misstönendes Rufen erschallen.«
    »Und dann, Mama? Und dann?«
    »Dann lachte euer Vater, und die weiße Eule flatterte missbilligend mit ihren Flügeln, ließ ein weißes Federchen fallen, erhob sich und verschwand mit einem letzten ›Uhuhuu!‹.«

    »Och nöööö!«
    »Och doch. Es war schaurig schön, meine Süßen. Und ich fürchte, solche und ähnliche Erlebnisse haben all die Gruselgeschichtenschreiber angeregt, ihren Spuk und ihre Gespenster zu erfinden.«
    »Bist du ganz sicher, dass es nicht doch ein Geist war?«
    War ich nicht, das Erlebnis ging tiefer, als ich es gerade geschildert hatte. Denn in jener Nacht hatte es zwar gedonnert, und Wetterleuchten hatte den Himmel zerrissen, aber Regen war nicht gefallen. In der Ruine war der Boden mit federndem Gras bewachsen gewesen, und eine weiche Decke aus dem Wagen bildete ein sehr gemütliches Lager. So gemütlich, dass in jener Nacht mein Sohn Philipp gezeugt wurde. Unter den wachsamen Augen einer Schleiereule. Das weiße Federchen, das sie uns geschenkt hatte, lag wohlverwahrt in dem Kästchen, in dem alle meine Geheimnisse ruhten.
    »Vielleicht war es ein Geist, der die Gestalt einer weißen Eule angenommen hat, Philipp. Beschwören kann ich es nicht.«
    »Aber Papa hatte keine Angst?«
    »Nein, euer Vater hatte keine Angst. Er hatte nie Angst. Er lachte immer über die Gefahr. Und er brachte mich in dieser Nacht auch sicher nach Hause.«

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